Dirk Kunde

Technologie-Journalist, Hamburg

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Der Schönwetter-Drive-Pilot

Mit dem EQS durch den Stau in Los Angeles. Der Fahrer kann inzwischen ein Video schauen.

Mercedes-Benz erhält als erster Autohersteller Lizenzen für hochautomatisiertes Fahren (Level 3) in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Nevada. Unterwegs im Stau von Los Angeles.

Es leuchtet türkis. Das Head-up- und Fahrerdisplay als auch die beiden LEDs im Lenkrad erstrahlen in der Farbe. Zusätzlich ist das grün-blaue Licht in den Front- und Heckleuchten sowie an den Außenspiegeln zu sehen. Jeder soll wissen: Dieser Mercedes EQS fährt ohne Eingriffe des Fahrers.

Allerdings geht es nur stockend voran, denn ich stehe im Stau. Auf der Interstate 10 von Downtown Los Angeles in Richtung Santa Monica geht es nur langsam voran. Aber genau das will der Hersteller, denn sein Drive Pilot ist bis 40 mph oder 60 km/h zugelassen. Ein Tempo, dass man auf Autobahnen nur im Stau oder zähfließendem Verkehr fährt.

In Deutschland nennt man die Funktion somit auch Staupilot. Für die S-Klasse sowie die elektrische EQS Limousine können Kunden in Deutschland das System bereits seit dem vergangenen Jahr bestellen. In den USA werden die ersten Modelle Ende des Jahres ausgeliefert. Nutzen kann man es hier nur in den Bundesstaaten Nevada und Kalifornien. Die Zulassung der hochautomatisierten Fahrfunktion des Level 3 ist Sache der Bundesstaaten.

Schneller als Tesla

Mercedes-Benz ist stolz, als erster Autohersteller diese Zulassungen erhalten zu haben - noch vor Branchenprimus Tesla. Eine US-Journalistin fragt Technikvorstand Markus Schäfer, der per Video aus Stuttgart zugeschaltet ist, was ihm dieser Vorsprung bedeutet. Der Automanager navigiert sich geschickt um den Wettbewerber herum, nimmt dem Namen des E-Autoherstellers nur auf Nachfrage ein einziges Mal in den Mund. Natürlich laute das Ziel im Level 3 auf Tempo 130 zu erweitern, führt er aus. „Jetzt gehe es erstmal darum, Erfahrungen mit der Technik als auch den Kundenreaktionen zu sammeln", sagt Schäfer.

In den USA kostet der Drive Pilot 2.500 Dollar im ersten Abo-Jahr. In Deutschland startet der Preis bei 5.950 Euro in der S-Klasse. In der EQS-Limousine startet das Fahrerassistenz-Paket bei 7.700 Euro. Hierzulande gelten die Preise für zunächst drei Jahre. Im EQS SUV wird der Drive Pilot zunächst nicht angeboten.

Großer Komfortgewinn

Stolze Preise, doch der Komfortgewinn ist enorm. Ich lehne mich im Stop-and-Go auf dem sechsspurigen Freeway entspannt im Sitz zurück. Auf dem zentralen Bildschirm läuft ein Video, dem ich meine volle Aufmerksamkeit schenken kann. Auch das Gespräch mit dem Beifahrer ist angenehmer, da ich meine Augen dauerhaft in seine Richtung drehen darf. Die Straße ist mir egal. Ich kann auch etwas lesen oder Mails beantworten. Doch sollte mir bewusst sein, wenn ich ein Tablet oder Smartphone zwischen Lenkrad und mein Gesicht halte, würde der Airbag den Gegenstand bei einem Unfall mit voller Wucht in mein Gesicht katapultieren.

Natürlich versucht die Kombination aus Kameras, Radar- und Lidarsensoren sowie HD-Straßenkarte einen Unfall zu verhindern. Doch ein Level 3 System kann nicht die Fahrweise anderer Autofahrer beeinflussen. Es kann immer jemand in mein Auto fahren.

ei einem Auffahrunfall wären auch die wichtigsten Sensoren betroffen. Der Radar-Sensor steckt hinter dem Mercedes-Stern in der Front. Links und rechts daneben erkennt man zwei weitere Sensorfelder. Doch nur in einem rotiert ein Lidar-Sensor. Der andere dient lediglich der symmetrischen Optik. Die Kameras befinden sich am oberen Rand der Windschutzscheibe. Hier oben beim Dach wären Lidar und Radar sicherer untergebracht und könnten auch weiter schauen, doch Mercedes-Benz wollte die Dachlinie nicht verändern. Lediglich am Heck, erkennt man einen leichten Huckel im Dach, unter dem sich eine Antenne befindet.

Nur bei schönem Wetter

Vor der Kaufentscheidung sollten Kunden wissen, wann der Drive Pilot funktioniert. Kurz gesagt: auf Autobahnen bei Tag und gutem Wetter. Der Assistent verweigert den Dienst unter vier Grad Celsius, da die Sensoren zwar Regen aber kein Eis auf der Fahrbahn detektieren können. Mikrofone in den vorderen Radkästen analysieren das Rollgeräusch. Das ändert sich bei nasser Fahrbahn. Bei Regen, im Tunnel, bei Nacht, in Baustellen und wenn keine HD-Straßenkarte vorhanden ist, bleibt das türkisfarbene Licht aus. Der Drive Pilot muss ein vorausfahrendes Fahrzeug erfassen und die Spurmarkierung muss klar zu erkennen sein. Der Fahrer darf nicht einschlafen (Augen geschlossen halten) oder den Fahrersitz verlassen.

Eine Kamera in der Heckscheibe blickt nach hinten. Sie detektiert zusammen mit den Innenraummikrofonen Sirenen von Polizei, Feuerwehr oder Krankenwagen. In diesen Fällen, aber auch wenn ein Fußgänger auf der Fahrbahn erkannt wird, erhält der Fahrer eine Übernahmeaufforderung. Ein Ton und rote Lichter signalisieren den Wunsch, für den der Fahrer zehn Sekunden Zeit hat. Erfolgt keine Übernahme, startet eine Notbremsung. Die Warnblinker schalten sich ein, der Wagen verlangsamt, bis er auf seiner Spur zum Stehen kommt.

Noch fährt das Fahrzeug nicht automatisch an den rechten Fahrbahnrand. Das Fahrzeug setzt automatisch einen Notruf (e-Call) ab, entriegelt für Ersthelfer die Türen, bleibt aber ein Verkehrshindernis in der Spur. Ein Stopp auf der linken Autobahn-Spur ist ein abschreckender Gedanke.

Autobahnassistent mit Überholfunktion

Kurz vor Santa Monica löst sich der Stau auf. Das vorausfahrende Fahrzeug wird schneller, der Drive Pilot signalisiert, dass er sich gleich abschaltet. Mein EQS ist mit einem Autobahnassistenten des Level 2 ausgestattet. Ein doppelter Knopfdruck am Lenkrad aktiviert den Assistenten, bei dem ich als Fahrer in Kontrolle und Haftung bleibe. Hier muss mindestens eine Hand am Lenkrad bleiben, was zuvor nicht notwendig war. Dafür bietet die Funktion einen automatischen Spurwechsel.

Sobald das System erkennt, dass die linke Spur frei ist und das Tempolimit einen Überholvorgang erlaubt, überholt das Auto. Das funktioniert bis Tempo 140 km/h. Diese Funktion wird Anfang 2024 nach Deutschland kommen und zunächst in der E-Klasse verfügbar sein.

Die Kombination beider Assistenten ermöglicht entspannte Fahrten auf der Autobahn. Bleibt die Frage, ob Käufern der zusätzliche Komfort den Preis wert ist. Im sonnigen Kalifornien kann man den Drive Pilot sicher deutlich häufiger nutzen als in Deutschland. Wer sich noch fragt, warum der EQS auch außen türkis leuchtet, stelle sich folgendes Szenario vor: Polizisten sehen einen Fahrer mit aufgeschlagener Zeitung auf der Autobahn. Sie würden das Fahrzeug mit Sicherheit anhalten. Anhand der Farbe können sie jedoch sicher sein, dass Kollege Computer das Steuer sicher im Griff hat.

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