Dirk Kunde

Technologie-Journalist, Hamburg

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„Die rechtliche Lage in Deutschland ist ein Flickenteppich"

Mikromobilität „Die rechtliche Lage in Deutschland ist ein Flickenteppich"

Die Lage für E-Scooter-Verleiher ist komplex: Städte fordern strenge Vorgaben, es herrscht harter Wettbewerb, die Nachhaltigkeit ist nicht unumstritten und negatives Nutzerverhalten ändert sich nur langsam. Zudem gibt es erste Anzeichen für eine Konsolidierung. Wir haben mit Voi darüber gesprochen, wie die Schweden die Lage einschätzen.

Voi will weiter wachsen. „Es dürfte eine einstellige Zahl sein", antwortet Stephan Boelte auf die Frage nach weiteren deutschen Städten, in denen der Deutschland-Chef seine E-Scooter platzieren möchte. Aktuell ist das schwedische Unternehmen in 16 deutschen Städten aktiv. Die Zahl der Fahrten hat sich seit dem Start 2019 zu 2021 versechsfacht.

Mit genauen Zahlen zu Nutzung, Expansion und Wirtschaftlichkeit hält sich Boelte im Gespräch mit "Next Mobility" zurück. Man will Wettbewerbern keinen allzu tiefen Einblick gewähren. Hierzulande buhlen mindestens sechs Anbieter im Free-Floating-Markt um Nutzer. Spin zählt künftig nicht mehr dazu. Die Ford-Tochter zieht sich aus Deutschland, Portugal und demnächst Spanien zurück. Auf der iberischen Halbinsel scheint der Markt noch schwieriger zu sein. Auf der Voi-Landkarte ist Portugal komplett leer und für Spanien sind nur Sevilla und Malaga verzeichnet.

Die Frage nach der Klimabilanz

Boelte ist verantwortlich arbeitet für Voi derweil am Ausbau der Geschäftstätigkeit im DACH-Raum. Was es dafür braucht? „Wir wünschen uns eine noch engere Verzahnung mit dem öffentlichen Nahverkehr", sagt er. Im Idealfall ersetzt die Fahrt mit Bus und Bahn eine klimaschädlichere Autofahrt. Die erste und letzte Meile legt der Nutzer dann auf einem elektrischen Tretroller zurück. An den Haltestellen stehen ausreichend gut gewartete E-Scooter aufrecht in Ständern. Der Nutzer fährt allein, nüchtern und mit Helm zu seinem Ziel. Die Realität sieht allerdings oft anders aus.

Aber der Reihe nach: Eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich kam kürzlich zu dem Ergebnis, geteilte Tretroller schaden dem Klima Stand jetzt eher als dass sie es verbessern. Im Untersuchungszeitraum ersetzten E-Scooter nur zu 12 Prozent Autofahrten. Zur Hälfte wären Nutzer ansonsten zu Fuß gegangen. Herstellung, Logistik des Batteriewechsels sowie eine kurze Haltbarkeit von weniger als zwei Jahren belasten die Klimabilanz.

Boelte hält dagegen. „Wir bewegen uns in einem dynamischen Umfeld. Bei der Haltbarkeit hat sich einiges getan. Unsere Scooter halten mindestens fünf Jahre", sagt er. Zudem verweist er auf die positive Entwicklung seit dem Start 2019. Anfänglich wurden E-Scooter nachts zum Aufladen mit Diesel-Transportern eingesammelt. „Heute bewerkstelligen wir den Akku-Tausch mit Lastenrädern und E-Fahrzeugen", so der Deutschlandchef. Die Tretroller seien inzwischen stabiler, haben größere Räder, bessere Bremsen und verfügen über Beleuchtung samt Blinker.

Dennoch regt sich in etlichen Städten immer wieder Unmut, weil die Anbieter attraktive Innenstadtbereich mit zu vielen E-Scootern ausstatten. Die Konsequenz: E-Scooter liegen oder stehen im Weg, im schlimmsten Fall landen sie in Gewässern. „Das Rollermikado in öffentlichen Räumen muss aufhören", sagte Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, vor Kurzem der Rheinischen Post.

In einigen Städten herrscht noch Unklarheit darüber, ob das Aufstellen von E-Scootern Gemeingebrauch des Straßenraums ist oder unter die Sondernutzung fällt. „Da ist die rechtliche Lage in Deutschland noch ein Flickenteppich", sagt Neele Reimann-Philipp, Senior Public Policy Manager bei Voi. Bereits seit August 2019 existiert ein Memorandum of Understanding zwischen Städtetag und vier Betreibern, darunter auch Voi. Darin sind alle wichtigen Punkte behandelt, doch ist das Papier rechtlich nicht bindend - für beide Seiten.

„Wir sind große Fans von Ausschreibungen"

Leipzig hat kürzlich den stations-basierten Scooter-Betrieb, wie es in Frankreich und Großbritannien üblich ist, ausgeschrieben. Voi erhielt einen Zuschlag. „Wir sind große Fans von Ausschreibungen", sagt Stephan Boelte. Mit einer Limitierung der Anbieter kann er leben, wenn dann die Stückzahl der zugelassenen E-Scooter nicht zu stark begrenzt werde. „Je kleiner die Flotte, desto schwieriger wird es, rentabel zu arbeiten", so Boelte. In 15 der 16 Städte arbeite Voi bereits operativ profitabel.

Letztendlich wird es vor allem am Nutzer liegen, das „Rollermikado" zu beenden. Boelte und Neuman-Philipp zählen im Gespräch auf, mit welchen Methoden sie positives Nutzerverhalten unterstützen: In München und Köln testet Voi von Donnerstagabend bis Sonntagfrüh einen Reaktionstest. Bestehen Nutzer:innen den Test nicht, wird empfohlen den E-Scooter stehen zu lassen. Der Buchungsverzicht ist freiwillig, doch in der Erprobung ließen 20 Prozent den Tretroller stehen.

Wer ein Selfie mit Helm hochlädt, erhält zusätzliche Loyalitätspunkte, die zukünftige Fahrten günstiger machen. Da die meisten Unfälle bei der ersten Fahrt geschehen, bietet die App einen Anfängermodus. Er reduziert die Geschwindigkeit des E-Scooters von 20 auf 15 km/h. Die Driving Academy setzt noch früher an. In der virtuellen Fahrschule lernen Nutzer, die keinen Führerschein besitzen, die relevanten Verkehrsregeln kennen.

Die Branche strotzt vor Investoren-Geld

Einige der Voi-Wettbewerber setzen schon länger auf eine breitere Angebotspalette. Denn zur Mikromobilität gehören nicht nur E-Scooter. In Großbritannien sind auch die Schweden selbst beispielsweise mit E-Bikes vertreten. Eine Alternative auch für Deutschland? Boelte hält sich bedeckt. Mehr als ein „wir evaluieren mögliche Erweiterungen" ist aus ihm im Gespräch nicht herauszubekommen.

Das schwedische Unternehmen beschäftigt 1.000 Mitarbeiter und ist heute in 75 europäischen Städten aktiv. Mit insgesamt 90.000 E-Scootern wurden seit dem Start 90 Millionen Fahrten absolviert. Das erfährt man mit einem Blick auf die Daten von Fluctuo. Nach deren Zahlen belegt Voi in Europa hinter Tier und Lime Platz drei bei der Zahl verfügbarer E-Scooter.

Wer im Wettbewerb letztendlich die Nase vorn hat, dürfte auch eine Frage des Geldes sein. Voi hat im Dezember eine Finanzierungsrunde über 115 Millionen US-Dollar abgeschlossen, so dass die Gesamtfinanzierung bei 515 Millionen US-Dollar liegt. Viel Geld, aber Lime (USA) und Tier (D) haben mehr in der Kasse. Bird (USA), die Anfang 2020 den deutschen Anbieter Circ übernahmen, hat über die Börse in New York Zugang zum Kapitalmarkt. Bolt aus Estland hat soeben eine Finanzierungsrunde über 628 Millionen Euro abgeschlossen und verfügt nun über mehr als zwei Milliarden Euro Kapital. Von außen betrachtet weckt der E-Scooter-Markt Erinnerungen an die Verteilungskämpfe der Essens-Lieferanten. Wie das ausging, ist bekannt.


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