Dietmar Braun

Fachjournalist, Hochschuldozent, Heilbronn

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Artikel

Fußball- oder Export-Weltmeister - weder noch?

Anstoss oder schon Spielende - das ist die Frage im Risiko-Management.

Haben die Export-Weltmeister und die deutschen Politiker ihre Aufgaben im Risiko-Management gut gelöst? Welche Fehler wurden vor der Krise gesetzt (Mundschutz, Tests und Prävention)?


Wo haben Wirtschaft und Politik die Globalisierung in Liefer-Prozessen oder in der Auslagerung von Produktion Fehler gemacht? Eine Forscherin beschäftigt sich mit der deutschen Politik.


Die politische Agenda im deutschen Risiko-Management:


  • Ab dem 8. März 2020 wurden große öffentliche Veranstaltungen abgesagt,
  • eine weitere Woche später mussten Bildungseinrichtungen und viele Geschäfte schließen.
  • nur eine Woche später, am 22. März 2020, einigten sich Bund und Länder auf strenge Regeln zur Kontaktbeschränkung.


Das Sars-CoV-2-Virus breitete sich zu dieser Zeit bereits massiv in der Bevölkerung aus. Ende März 2020 wurden den Gesundheitsbehörden an manchen Tagen bereits 7.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet. Mitte Mai 2020 liegt die Zahl stabil bei deutlich unter 1000. Verantwortlich dafür sind neben individuellen Verhaltensänderungen auch die getroffenen gesetzlichen Regelungen.


Die Beschränkungen waren im Vergleich zu Frankreich oder Spanien in Deutschland vergleichsweise moderat. Waren sie in ihrer Härte überhaupt nötig? Hätte sich die Pandemie mit weniger rigiden Maßnahmen in den Griff bekommen lassen? Ist die Zahl gesunder Menschen, die ein Kranker mit dem Virus ansteckt, der sogenannte Reproduktions-Faktor, nicht vor der offiziellen Verkündung der Maßnahmen gesunken? Bei der letzteren Frage spielt der Faktor einer Dunkelziffer aufgrund viel zu weniger Tests eine Rolle.


Freispruch durch Forscherin

Was sagt die Wissenschaft nur zum politischen Risiko-Management in Deutschland? Im Mai 2020 hat die Max-Planck-Forscherin Dr. Viola Priesemann mit einem Team der Uni Göttingen diese Frage untersucht und im Wissenschaftsmagazin „Science" vorgerechnet, was die deutschen Regelungen rund um Corona gebracht haben. Sie bezieht sich auf mathematische Simulationen zur Ausbreitung des Infektionsgeschehens.


„Wir können zeigen, dass alle drei Maßnahmenpakete die Zunahme der Infektionen klar bremsen konnten. Aber erst durch das weitreichende Kontaktverbot gingen die Fälle dann deutlich zurück", so Dr. Viola Priesemann.


Die Forscherin legt nachvollziehbar dar, wie sich das Ergebnis der Beschränkungen jeweils etwa zwei Wochen nach ihrer Verkündung in den Fallzahlen zeigte. Die Verzögerung ergibt sich durch die sogenannte Inkubationszeit, also die Zeit bis eine Erkrankung erkennbar war, den Zeitraum bis dann ein Covid-19-Test gemacht wurde und das Ergebnis vorliegt sowie die Übermittlung dieses Resultats an das Robert Koch-Institut (RKI).


Im Detail beziffert die Studie den Erfolg der verschiedenen Maßnahmen wie folgt:


  • Die Absage von Großveranstaltungen hat die Wachstumsrate der Virusverbreitung von etwa 30 Prozent auf rund 12 Prozent sinken lassen. Eine Wachstumsrate von null Prozent entspricht übrigens einer Reproduktionszahl von 1.
  • Die Schließung von Schulen, Unis und den meisten Geschäften drückte den Wert weiter auf rund zwei Prozent. Die Epidemie wäre damit noch nicht gestoppt gewesen.
  • Erst die strengen Regeln zur Kontaktbeschränkung ließen die Wachstumsrate schließlich auf etwa -3 Prozent sinken. Das ist ein vergleichsweise geringer Effekt, aber womöglich auch nur, weil die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt bereits sensibilisiert war.


„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass tatsächlich das volle Ausmaß der Interventionen zur sozialen Distanzierung notwendig war, um die Welle so schnell abflachen zu lassen", so Priesemann.


Die Schließung von Bildungseinrichtungen, Gastronomie und Geschäften hätte die Reproduktionszahl zwar nahe an den Wert von eins gebracht, aber eben wohl nicht ganz. Einen gelockerten und weniger einschneidenden Weg für Deutschland durch diese Phase der Corona-Krise hätte es den Forschern zufolge nicht ohne Weiteres gegeben.


Das Timing war entscheidend

Einen Widerspruch zu Berechnungen des RKI, wonach die Reproduktionszahl bereits am 21.3.2020, also einen Tag vor der Verkündung der Kontaktbeschränkungen, unter 1 gegangen ist, sieht die Forscherin nicht.


„Unsere Resultate sind innerhalb der Unsicherheiten konsistent mit denen vom RKI", so Priesemann.


Zum Teil hätten Menschen die politischen Entscheidungen in ihrem freiwilligen Verhalten bereits vorweggenommen.


Wenn die Politik eingreift, ist das Timing wichtig - und das hat in Deutschland mehr oder weniger gut geklappt, im Gegensatz zu den USA. Die Forscher zeigen in ihrer Arbeit, dass eine Verzögerung der Maßnahmen um nur fünf Tage den Verlauf der Infektion maßgeblich zum schlechteren beeinflusst hätte: Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen wäre dann laut Simulation auf weit mehr als 30.000 Fälle pro Tag geklettert.


Das Timing bleibt entscheidend

In der zweiten Phase des Verlaufs in Deutschland kommen jetzt die Lockerungen. Hier kann das Timing im Risiko-Management vor Ort in den Bundesländern und Landkreisen entscheidend sein. Es gilt sehr genau zu erfassen, wie der weitere Verlauf sich zeigt. Die Phase der Lockerung sollte auch für sehr viele Corona-Tests zur Erhellung der Dunkelziffer an Infektionen genutzt werden.


Die wohl mit dem meisten Risiko belastete Frage lautet. Gibt es eine zweite oder eine dritte Welle? Es wäre nahezu fatal, wenn sich in der Zukunft heraus stellen würde, dass bereits die erste Welle, bis auf wenige Hot-Spots, im Auslaufen war.


Die deutsche Wirtschaft hat sich in der Globalisierung bereits in der Auslagerung von Teilen ihrer Produktion verzockt, die Prozesse der Lieferketten schufen Risiken in der logistischen Abhängigkeit.


Das Zauberwort „ just in time " blieb manchen im Halse stecken.


Was tun, wenn Lieferungen fehlen? Da wird jetzt guter Rat sehr teuer, obwohl er zuvor, in Form von Risiko-Management verfügbar war.


Dietmar Braun, freier Fachjournalist, Hochschuldozent für Risiko-Management (DHBW)

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