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Was aus der Generation Emo geworden ist

Emo war die letzte bedeutende Jugendkultur, die der Rock 'n' Roll hervorgebracht hat. 




Will man die Geschichte seiner Generation begreifen, dann muss man die Geschichten ihrer Helden erzählen. Die Geschichten ihrer Aushängeschilder und ihrer Anhänger. Geschichten, die in ihrer Summe den Querschnitt eines Lebensgefühls bilden. Und weil all diese Geschichten radikal subjektiv sind und sein müssen, bringen wir gleich zu Beginn das Ich in diesen Text.


Die Generation, in der ich also aufgewachsen bin, ist die Generation Emo. Eine Jugendkultur, die den Weltschmerz zum Prinzip erhob und ihre Verletzlichkeit offen zur Schau stellte. Deren Lebensgefühl ein einziger Sehnsuchtsmoment war. 15 Jahre ist das her. Ein halbes Leben. Emo ist längst tot. Doch was ist aus ihren Anhängern geworden?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich die Geschichte der Generation Emo mit der Geschichte meiner großen Liebe beginnen lassen. Wir begegneten uns in Köln, in einem heruntergekommenen Club. Montagabend. Anfang Zweitausendirgendwas.


Ich bin mit einem Freund gekommen, habe den Nachmittagsunterricht geschwänzt, weil ich wusste, dass ich in einem heruntergekommenen Klub in Köln in zwei Stunden mehr von der Kunst und dem Leben lernen würde als ich in den endlosen Kunststunden bei Herrn Heufelder jemals lernen konnte, und darum stand ich nun hier, mit Andy, dem Freund, in einem Klub, der voller Rauch und Dreck und betrunkener Amerikaner war, die zwischen dem Rauch und dem Dreck in ihren sehr engen T-Shirts herumstanden.


Die Shirts steckten die Amerikaner in Camouflagehosen, die Camouflagehosen steckten die Amerikaner in schwarze Doc Martens, und auf die schwarzen Doc Martens tropfte das Bier aus den Plastikbierbechern, die die Männer wieder und wieder im Takt der Hintergrundmusik in die Luft streckten. Am Anfang dieses Abends deutete noch rein gar nichts darauf hin, wie er tatsächlich ausgehen würde. Bis sie kam. Sie war etwas Besonderes, das wusste ich gleich. Sie betrat den Klub so cool, wie man einen Klub nur betreten konnte.


Vielleicht war es die Anmut, mit der sie ihre Zigaretten rauchte, oder die Lässigkeit, mit der sie ihre Bierflasche gegen die Wand schmiss, als wäre es das Normalste der Welt, in einem Klub voller betrunkener Amerikaner in Camouflagehosen eine Bierflasche gegen die Wand zu schmeißen. Es beeindruckte mich. Und als sie dann noch begann, mir ihre Geschichten zu erzählen, da war es um mich geschehen. Es waren nicht irgendwelche Geschichten, es waren die ganz großen Geschichten, es waren Geschichten von der Liebe.


Ich hing an jedem ihrer Worte und verstand plötzlich alles. Verstand das Leben und mich selbst. Es war ekstatische Ganzkörpereuphorie. Absoluter Kontrollverlust. Blindes Vertrauen in eine Ewigkeit, basierend nur auf ihren Worten, die Versprechen waren. Ich war 16 Jahre jung, ein klein wenig verheult und bereit, mich für immer zu binden. Noch in derselben Nacht schlossen wir einen Pakt, dass wir uns gegenseitig treu bleiben würden. Egal, was geschieht.


Und so ist es auch gekommen. Von all den Bands, die ich höre und liebe, mit denen ich meine Tage und Nächte verbringe, wird sie immer die Band bleiben, die ich ganz besonders nah am Herzen trage, die Band, die mir gezeigt hat, was Liebe ist: Taking Back Sunday.


Jedes Lied von Taking Back Sunday ist ein Liebeslied

Neben Jimmy Eat World und Dashboard Confessional waren Taking Back Sunday die prominentesten Vertreter der dritten Emo-Welle, die das Genre Anfang der 2000er-Jahre in den Mainstream spülte und jede Menge Kids dazu animierte, sich die Augen mit schwarzem Kajal zu untermalen, die Haare lang wachsen und sich ins Gesicht fallen zu lassen und die Jeans jetzt nur noch skinny zu tragen.


Als Taking Back Sunday, fünf Teenager aus Long Island (New York) 1999 antraten, definierten sie das Lebensgefühl des Rock 'n' Roll um. Sie unternahmen nicht mehr den Versuch, mithilfe der Rockmusik die Welt zu verändern. Sie wollten sich ihre Welt bloß mithilfe des Rock begreiflich machen. Es ging nicht um die großen politischen Fragen, um die Utopien vergangener Dekaden. Es ging um die eigene Befindlichkeit.


Emo war die große Ich-Maschine der Popkultur. Man schaute nicht mehr auf die Lage der Welt (70er), nicht mehr auf die Oberfläche der menschlichen Natur (80er) und auch nicht auf die Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der ihn umgebenden Wohlstandsgesellschaft (90er). Nein, man schaute jetzt nur noch auf sich selbst, hörte in sich hinein, auf das, was da mit einem passiert im Angesicht gescheiterter oder niemals zustande gekommener Beziehungen, in Gedanken an Mädchen, die unerreichbar schienen und denen man deswegen Gedichte schrieb, die Lieder waren und zu Hymnen wurden. Emo war Sehnsuchtsmusik. Und jedes Lied von Taking Back Sunday war ein Liebeslied, das gar nicht so sehr von der Liebe zu einer bestimmten Person handelte, sondern von der Liebe zu der Möglichkeit zu lieben oder eben der Möglichkeit, in seiner Liebe zu scheitern.


Weil sich Emo ausschließlich der eigenen Befindlichkeit widmete, waren die Songs, die in diesem Genre entstanden, sehr viel tiefgründiger und widersprüchlicher, als klassische Liebeslieder es waren. Die Komplexität der eigenen Gefühle fand ihre musikalische Entsprechung in einer ganz besonderen stilistischen Form. Gerade in ihrem Frühwerk brachen Taking Back Sunday das klassische Songwriting-Schema auf, arrangierten den zweistimmigen Gesang von Adam Lazzara und John Nolan in sich überlappenden Passagen, in denen Melodien kurz auftauchten, die sich einbrannten, aber nicht wieder aufgegriffen, sondern unter harten Shoutingparts begraben wurden.


Oft sind es nur wenige Sekunden lange Gesangslinien, die als Sehnsuchtsmomente anklingen, bevor sie wieder verschwinden. Lyrisch kulminierte die emotionale Überforderung der Dualität von Glück und Leid in große Liebesbekenntnisse, die jederzeit in brutale Auslöschungsfantasien kippen konnten. I just wanna break you down so badly/ In the worst way, singt Adam Lazzara, und nur wer noch niemals geliebt hat, wird das für eine Übertreibung halten. Emo war der Superlativ der Empfindung.


Die Generation Emo ist erwachsen geworden


Nach dem überragenden Frühwerk der ersten drei Alben folgte eine Durstrecke. Man geht einen langen Weg mit der Band, die man liebt, und auf diesem Weg gibt es Tiefen, die man in Kauf nehmen muss, um die Höhen erst wieder schätzen zu können. Und jetzt das.

Es ist 2019, ganze 17 Jahre sind vergangen seit dem ersten Abend im Kölner Klub, 20 seit Gründung der Gruppe, und „Twenty" ist gerade auf den Markt gekommen. Eine Compilation der Band, die noch immer Lieblingsband ist, ein Querschnitt ihres Schaffens, eine Bestandsaufnahme, ein Best-of-Album anlässlich des 20. Geburtstags, was schon irgendwie ein wenig rührend ist, denn wozu braucht man im digitalen Streamingzeitalter noch ein Best-of? Völlig egal. Es ist jetzt da. Ein Lebenszeichen, und man freut sich ja über alles, was kommt, wenn es von der Band stammt, die man liebt.


Und auch der Zeitpunkt fühlt sich richtig an. An der Schwelle eines neuen Jahrzehnts ist der beste Moment, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Was ist eigentlich aus der Generation Emo geworden, die damals so sehr verliebt war in die große Sehnsucht nach einem besseren Morgen? Man muss sich wiedersehen.


Wir treffen uns also in Berlin, an einem Mittwochabend, in einem Klub, der nur noch so aussieht, als wäre er heruntergekommen, weil es gerade angesagt ist, die Dinge schäbiger wirken zu lassen, als sie eigentlich sind. Im Publikum keine betrunkenen Amerikaner mehr, keine Jungs mit kajaluntermalten Augen, keine Mädchen in Chucks oder Vans, nur erwachsene Männer und Frauen. Die Männer tragen oft Vollbärte, und die Frauen sehen aus, wie Frauen so aussehen.


Tatsachen der Realität statt Möglichkeiten des Lebens


Die Generation Emo ist erwachsen geworden. Sie interessiert sich nicht mehr für die Möglichkeiten des Lebens, sie hat sich eingerichtet in den Tatsachen der Realität. Auch Andy ist nicht mehr dabei, sondern verheiratet und verbeamtet wahrscheinlich auch, und alles ist ganz traurig, und dann sieht man diese Menschen, die dennoch hier sind. Die gekommen sind, um sich noch einmal zu erinnern. Eine andere Emo-Band, die Hawthorne Heights, verkaufen mittlerweile T-Shirts, auf denen steht: „I used to listen to Hawthorne Heights in High School", und allein das ist ein grandioses Zeugnis der Traurigkeit.


Rockmusik ist ja immer ein Hort der Erinnerung und Verklärung, aber ausgerechnet Emo? Die letzte weltweite Jugendkultur, die das Genre hervorgebracht hat und die immer ihre Kraft aus dem Konjunktiv des Möglichen gezogen hat? Ja, auch Emo.


Die Menschen, die gekommen sind, sind Menschen, die sich die alten Videos ihrer früheren Helden auf YouTube anschauen und dann kommentieren, wie alt man doch geworden ist und was die Zeiten, die einmal gewesen sind, doch für tolle Zeiten gewesen sind. Bei Emo ist es vielleicht noch etwas extremer. Man sehnt sich zurück nach den großen Momenten, statt sie neu herbeizuführen, weil man ja von damals weiß, dass mit dem großen Glück auch der große Schmerz verbunden ist, dass das eine nicht ohne das andere geht. Es ist frustrierend.

Ich bewege mich zwischen diesen Menschen, die mir fremd geworden sind, und schaue auf die Bühne. Die Bühne, auf der die Band steht, die man noch immer so liebt, und man hört ihr zu in der Hoffnung, etwas zu erfahren, was einem hilft in dieser Lage, so, wie man ihr früher zugehört hat. Man hängt an ihren Worten. An den alten und den neuen Geschichten, die sie erzählen.


Adam Lazzara besang vor einigen Jahren keine vergangenen Beziehungen mehr, sondern seine gescheiterte Ehe, die Themen waren noch dieselben, die Dimensionen nur etwas größer. We found a house/ With a yard/ And moved all of my things in/ And most of your things in ..., weinte Adam damals in sein Mikrofon. Doch auch das ist schon wieder zehn Jahre her. Das letzte Taking-Back-Sunday-Album war ein zufriedenes Album. Man ist angekommen.


Die Band, die in den ersten Jahren mit jedem neuen Album auch einen Großteil ihrer alten Mitglieder entsorgte, ist jetzt (beinahe) wieder in ihrer Ursprungsformation auf der Bühne. Adam ist glücklich verheiratet, hat Kinder, und so klingt auch die Musik. Immer noch ein wenig emotional, aber des Pathos der früheren Tage beraubt. Man versucht auch gar nicht mehr zu sein, wer man einmal war, die Songstrukturen sind klassischer geworden, die Schublade hat gewechselt, klassischer Alternative Rock ist das jetzt, immer noch super, klar, aber doch auch etwas konventioneller und ohne den ganz großen Moment.


Why can't I feel anything else from anyone other than you?, singt Adam eine alte Line auf der Bühne, während er sich das Mikrofonkabel um den Hals wickelt, und man weiß wieder, warum man dieser Band sein Herz geschenkt hat und man bereit ist, mit ihr weiterzugehen. Vielleicht kommt ja noch etwas.


Die Schönheit der Chance


Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich mir insgeheim ein bisschen wünsche, dass auch die neue Frau von Adam Lazzara ihm wieder das Herz brechen wird, so, wie all die anderen Frauen ihm in den vergangenen 20 Jahren das Herz gebrochen haben, was ja erst ermöglicht hat, dass er der Welt all diese wunderbaren Liebeslieder geschenkt hat. Dass einfach alles bleibt, wie es einmal war, auch wenn sich die Dinge dabei ständig verändern. Und dann schaue ich mir all diese Menschen hier an und verstehe, dass sich eigentlich gar nichts verändert hat. Das alles geblieben ist, wie es war, nur die Vorzeichen jetzt andere sind.


Es gibt einen Taking-Back-Sunday-Song, der heißt „This Is All Now", und viel spannender als der Song, der auch sehr gut ist, ist das Video zu dem Song, in dem ein Mann Tag für Tag auf den See hinausfährt, auf der Suche nach seiner großen Liebe, die er an diesem Ort einmal verloren hat. Als er sie dann nach vielen Jahren endlich wiederfindet, aus dem See fischt und sieht, dass sie sich nicht verändert hat, dass sie noch immer ist, wer sie einmal war, entscheidet er sich, sie ins Wasser zurückzuschmeißen, um am nächsten Tag wieder auf den See zu fahren, um erneut nach ihr zu suchen.


Das ist ein schönes Symbol für die Generation Emo, deren Glück sich schon immer mehr über die Sehnsucht als über die tatsächliche Erfüllung der Träume definiert hat. Eine Generation, für die das große Glück immer ein Konjunktiv bleibt. Im Schwebezustand des Möglichen. Tomte besangen einmal die Schönheit der Chance. Genau darum geht es. Nur, dass die Schönheit der Chance für die Emo-Generation früher einmal in der Sehnsucht nach einem besseren Morgen lag. Heute liegt sie in der Sehnsucht nach einem längst verklärten Gestern.

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