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Brieftaubensport: Kulturerbe oder Tierquälerei? - WELT

Die Brieftaubenzüchter wollen hoch hinaus: Nachdem ihr Hobby bereits 2018 NRW-Kulturerbe wurde, bewerben sie sich jetzt bundesweit. Und das obwohl sie bereits einmal eine Absage kassiert haben - wegen Tierschutzbedenken.

Nummer 408 ist verletzt. Eine tiefe Risswunde zieht sich an der Brust entlang. Spuren einer Attacke eines Wanderfalken. Aber Nummer 408 hatte Glück. „Wenn ich den Angreifer nicht rechtzeitig verscheucht hätte, wäre es das wohl gewesen", sagt Franz Platzköster. Der Mann im grauen Kittel streichelt seiner lädierten Brieftaube über den Kopf. Sie gurrt und hebt dann von der Hand ihres Besitzers ab, um eine Runde durch den Schlag zu flattern. Platzköster schaut ihr glücklich lächelnd hinterher.

Der Brieftaubensport ist sein Hobby. Ein Hobby, das der Verband der Brieftaubenzüchter gern zum immateriellen Kulturerbe erklären lassen würde. Auf eine NRW-Landesliste haben sie es mit ihrem Vorschlag bereits im April 2018 geschafft. Doch dem Verband reicht das nicht. Er will auf die Bundesliste. Darauf stehen etwa die ostfriesische Teekultur, das Skatspiel, das Sternsingen und 94 andere sogenannte Kulturformen.

Doch als sich die Brieftaubenzüchter darum bewarben, gab es zunächst eine Ablehnung. Die Jury der deutschen Unesco-Kommission begründete das so: In der Bewerbung seien „gesellschaftliche Kontroversen um die Tierhaltung und -nutzung nicht thematisiert" worden. Auch „eine Reflexion über eine zeitgemäße Mensch-Tier-Beziehung" finde nicht statt. Zudem erklärte die Jury, die „vordergründige kommerzielle Nutzung der Tiere" widerspreche den Aufnahmekriterien.

Es werden immer weniger Mitglieder

Franz Platzköster beschäftigt sich seit 43 Jahren mit der Zucht und schickt seine Vögel auf Reisen. Der Bottroper hatte mal eine Taube, die den Nationalflug von der polnischen Stadt Posen aus gewann. Auch in seiner aktuellen Reisegruppe gibt es echte Champions. Zum Beispiel Nummer 842. Wenn die startet, kann sich Platzköster hinterher eigentlich immer einen Preis abholen.

Geld spielt für ihn dabei keine Rolle, bisher hat er alle Kaufangebote für seine Rekordhalter abgelehnt. Aber natürlich weiß er auch, dass neuerdings astronomische Summen für erfolgreiche Tauben geboten werden. Kürzlich bezahlte ein chinesischer Bauunternehmer mehr als eine Million Euro für eine Taube. Er organisiert in China Wetten, bei denen hohe Preisgelder ausgeschüttet werden. Auch in den Golfstaaten blüht das Geschäft mit Brieftauben.

Doch Franz Platzköster scheint von diesem Hype unberührt. Er macht sich Sorgen um die Zukunft seines Hobbys. „Ich fürchte, dass der Brieftaubensport in dieser Region in 15 Jahren ausgestorben sein wird", sagt er. Platzköster ist in der sogenannten Reisevereinigung Gladbeck aktiv. Er ist 63 Jahre alt und gehört dort zu den Jüngsten.

Auch der in Essen ansässige Verband Deutscher Brieftaubenzüchter vermeldet rückläufige Mitgliederzahlen. Deshalb ließ er jüngst einen Imagefilm produzieren, in dem drei Mittzwanziger von der Brieftaubenzucht schwärmen. Auch die Bewerbung um einen Eintrag in die Welterbeliste ist ein Versuch des Verbands, dieses einst typische Ruhrgebietshobby am Leben zu halten.

Die Ablehnung der Welterbe-Kommission sorgte zunächst für Unmut. Doch dann beschlossen die Züchter, die Kritik der Jury ernst zu nehmen. Vor wenigen Wochen haben sie nun eine neue Bewerbung auf den Weg gebracht. „Wir haben das Angebot einer erneuten Bewerbung seitens der Unesco-Kommission gerne angenommen", sagt Verbandspräsident Richard Groß. In der überarbeiteten Bewerbung hätten sie versucht, „das Brieftaubenwesen in seiner Komplexität so darzustellen, wie es auch heute praktiziert wird: dem Tierwohl entsprechend". Ende 2020 soll die Entscheidung der Kommission fallen.

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Deutsche Tierschutzbund. Er sieht die Preisflüge der Tauben kritisch - und meldete im vorigen Jahr bei der Unesco-Kommission Bedenken an: „Jedes Jahr kommt es bei Wettkämpfen zu Verlusten von Hunderttausenden Tieren", hieß es in einer Stellungnahme. „Brieftauben müssen bei Preisflügen weite Distanzen - teilweise bis über tausend Kilometer - zurücklegen, welche die Tiere an ihre Leistungsgrenzen bringen."

Franz Platzköster kann diese Kritik nicht nachvollziehen. „Dass mal eine Taube unterwegs verloren geht, kommt so gut wie nie vor", sagt der 63-Jährige. Diese Vögel verfügten über einen inneren Kompass. Platzkösters Tauben legten schon eine 630 Kilometer lange Strecke von Wels in Österreich bis in den heimischen Schlag zurück - ohne Umwege. Natürlich seien sie danach erschöpft, immerhin fliegen sie mit Geschwindigkeiten von rund 70 Kilometer pro Stunde. „Das ist wie bei einem Marathonläufer", sagt Platzköster. „Der braucht nach dem Zieleinlauf auch einige Stunden, um zu regenerieren. Genauso verhält es sich mit den Tauben."

Der Tierschutzbund wies in seinem Schreiben an die Unesco auch auf Gefahren durch Raubvögel hin. Und das ist ein Problem, das auch Platzköster kennt. „Aber ich setze meine Tiere doch nicht durch die Preisflüge zusätzlichen Gefahren aus", erklärt er. „Die Wanderfalken, Habichte oder Sperber würden die Tauben ja auch überall anders in freier Wildbahn attackieren." Platzköster verlässt den Taubenschlag und schiebt den Riegel vor. Dann sieht er seinen Bruder Josef und winkt ihn heran. Josef Platzköster war früher auch ein leidenschaftlicher Taubenzüchter. „Jetzt bin ich nicht mehr so aktiv", sagt der 70-Jährige. „Die Familie will ja auch etwas von mir haben."

Ein paar Sekunden sind entscheidend für den Sieg

Die Taubenzucht ist zeitaufwendig. Franz Platzköster ist täglich in seinem Stall, säubert ihn, füttert die Tauben und lässt sie zu einstündigen Trainingsflügen starten. Dazu kommen an zwölf Sonntagen im Jahr die Wettkämpfe. Franz Platzköster muss dann seine Tiere verladen, per Lkw geht's zum Startort. Von da fliegen die Tauben wieder zurück in Platzkösters Taubenschlag in Bottrop. „Eine Taube, die gerne bei uns lebt, beeilt sich, wieder nach Hause zu kommen. Das wirkt sich positiv aufs Wettkampfverhalten aus", sagt Platzköster. Schließlich entscheiden bei den Wettflügen manchmal ein paar Sekunden über den Sieg.

Bei ihren Vereinstreffen sprechen die Züchter in letzter Zeit viel über den Antrag zum Unesco-Welterbe. „Ich fände es gut, wenn der Brieftaubensport auf die Bundesliste käme", sagt Franz Platzköster. „Gerade im Ruhrgebiet hat er eine so lange Tradition, und das sollte gewürdigt werden. Es war ja der Sport der Bergleute."

Platzköster selbst hat allerdings als Bankkaufmann gearbeitet. Seit er in Rente ist, kann er den Umgang mit den Tauben noch mehr genießen. Er freut sich immer besonders, wenn die Jungvögel schlüpfen. Drei Wochen später könnten die Tiere allein fressen und ein bisschen fliegen. „Das geht ruckzuck, Tauben werden unglaublich schnell groß", sagt er. Manche seien schon mit vier Monaten bereit für ihren ersten Wettflug. Trotz aller Sorge um die Zukunft der Taubenzucht schöpft Platzköster neuerdings wieder Hoffnung. Sein kleiner Enkel füttere schon gern die Tauben.

Dieser Text ist aus WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gern regelmäßig nach Hause.
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