Von seinem Großvater hat Rudi Hell gelernt, wie man mit Auslegenetzen Fische aus dem Rhein holt. Jetzt profitiert die Forschung von seinem Wissen. Eine zufällige Begegnung legte den Grundstein dafür.
Rudi Hell klettert in den frühen Morgenstunden über glitschige Steine eine Böschung hinab. Vorsichtig tastet er sich mit seinen Gummistiefeln hinunter. Der Wind zaust Hells weißgrauen Bart. Eine Schiffermütze schützt ihn vor der Kälte. Unten am Rhein kreisen Möwen über der Wasseroberfläche. Hell hangelt sich in ein grünes Beiboot, den „Erpel". Der Kahn schaukelt ziemlich, doch Hell macht das nichts aus. Er ist mit seinen 82 Jahren noch topfit. „Ich habe nie geraucht oder gesoffen und bin außerdem viele Stunden an der frischen Luft", sagt er. „Das ist gut für meinen Körper."
Über ein Tau zieht Hell sich nun zur „Anita II". So heißt sein 20 Meter langer Aalschokker, der im niederrheinischen Grieth vor Anker liegt. Das in den Niederlanden gebaute Flachboot hat weder einen Kiel noch einen Motor. Mit Auslegenetzen geht Hell auf Fischfang - im Auftrag der Wissenschaft.
Hell arbeitet unter anderem für Universitätsinstitute aus Trier, Bonn, Koblenz, Essen und Landshut. Er fischt Aale, Zander und Brassen. Die Forscher kommen zu ihm an den Niederrhein und nehmen den Fang mit ins Labor. Derzeit hat Hell besonders den Maifisch im Blick. Ein Forschungsprojekt der Universität Köln beschäftigt sich mit dem Tier. Die Biologen wollen den Bestand des Maifisches, aber auch den der jugendlichen Lachse sowie der Fluss- und Meerneunaugen erfassen. Dabei sind sie auf Hells Hilfe angewiesen.
Der Niederrheiner ist mittlerweile auf der „Anita II" angekommen. Er schmeißt einen Motor an, Benzingeruch liegt in der Luft. Eine Seilwinde dreht sich und zieht so das 60 Quadratmeter große Netz zusammen. Wie durch einen Trichter schwimmen die Fische nun in eine Reuse. „Letztens hat sich wieder allerhand Plastikmüll im Netz verfangen", erzählt Hell. „Wir haben schon Gartenstühle, Bierkästen und Flachbildschirme aus dem Rhein geholt. Unglaublich, was die Leute alles ins Wasser werfen." Heute findet er kaum Müll im Netz, doch auch der Fischfang fällt bescheiden aus. Ein paar Brassen sind dabei. Dazu chinesische Wollhandkrabben. „Ist kein guter Tag", sagt Hell. „Vielleicht haben wir auf der anderen Rheinseite mehr Glück."
Am rechten Ufer liegt ein zweiter Aalschokker. Zu dem bricht Hell nun mit einem Motorboot auf. Auf der Fahrt über den Rhein erzählt er seine Lebensgeschichte in Kurzform. „Die Leidenschaft für den Fischfang liegt bei uns in der Familie", sagt er. Schon vor mehr als 300 Jahren gingen seine Vorfahren dieser Arbeit nach. Das weiß Hell von einem alten Familienwappen, das in seinem Haus in Grieth hängt.
In dem kleinen Ort, der zur niederrheinischen Stadt Kalkar gehört, wuchs er auf. Großvater Theodor Hell fischte schon vor dem Zweiten Weltkrieg Aale und Salme aus dem Rhein. Später begleitete ihn sein Enkel. Rudi Hell half, die Reusen zu setzen und die Fische auszunehmen.
In der Wirtschaftswunderzeit trübte sich der Rhein. Industrieabwässer verunreinigten den Fluss. „Die Fische aus dem Rhein schmeckten nach Carbol", erzählt Hell. „Wenn man einen gegessen hatte, musste man zwei Tage lang aufstoßen." Da stand für ihn fest, dass er von der Fischerei nicht würde leben können. Hell schlug einen anderen Berufsweg ein. Er verdiente zunächst als Binnenschiffer sein Geld - fuhr von Rotterdam bis Straßburg über den Rhein. „Dabei habe ich viel gelernt", betont Hell. „Aber für ein Familienleben war das der falsche Beruf." Er orientierte sich um, arbeitete fortan in einem Kieswerk. Rheinfischer war Rudi Hell nach Feierabend.
2002 ging er in Rente und hatte nun mehr Zeit für sein Hobby. Hell machte sich auf die Suche nach einem Aalschokker. Im rheinland-pfälzischen Ingelheim fand er das, was er suchte. Er ließ das Boot rheinabwärts nach Grieth schleppen. Das war auch die Zeit, in der Hell Andreas Scharbert aus Meerbusch kennenlernte. Scharbert forschte damals als Doktorand im Ort Grietherbusch. Am anderen Rheinufer befindet sich eine Außenstelle der Universität Köln. Scharbert sprach Hell an, ob dieser nicht die Wissenschaft unterstützen wolle. „Als Biologe kann man von so einem erfahrenen Fischer unfassbar viel lernen", erzählt der 50-Jährige. Dass Hell sogar einen eigenen Aalschokker hatte, machte die Sache noch attraktiver. Denn mit der Auslegenetz-Fangtechnik filtert ein Aalschokker gewissermaßen das komplette Wasser. „So erhält man einen Blick in die Fischfauna des Rheines, mit Fischreusen ist das nicht möglich", sagt Scharbert.
Hell hat schon Studenten zu Exkursionen eingeladen, hat ihnen alles über Nordseeschnäpel oder Lachse erklärt - Fischarten, die wieder in den Rhein zurückgekehrt sind. Der alte Fischer kann auch wie ein Wissenschaftler reden.
Da das Interesse an den rheinischen Fischbeständen wuchs, schaffte sich Hell kürzlich einen zweiten Aalschokker an. Im September ließ er das Boot aus St. Goar an den Niederrhein schleppen.
Hell geht an Bord und lässt auch auf seinem zweiten Aalschokker den Motor laufen. Wieder zieht sich das Netz zusammen. Er steigt ins Beiboot und sichtet den Fang. Auch hier fällt er heute mau aus. Immerhin: Ein kleiner Aal ist dabei. Hell packt den glitschigen Fisch mit der Hand, legt ihn in einen Bottich. Zurück auf dem Schokker, öffnet er eine Eisenklappe und wirft den Aal in ein Wasserbassin unter Deck.
Hell wird bald Gesellschaft auf seinem neuen Aalschokker bekommen. Wissenschaftler unterstützen ihn künftig. Möglich macht das ein EU-Förderprojekt. Das Team soll Fische fangen und den Fang protokollieren. Die alte Fangtechnik ist ideal, um herauszufinden, welche Fische in welcher Menge vorkommen. „Wir werden den neuen Aalschokker nun zwischen Emmerich und Rees bewegen, um noch präzisere Daten zu erhalten", sagt Scharbert.
Hell hat derweil seine morgendliche Arbeit beendet. Er tuckert zurück in Richtung Grieth. Er lässt seinen Blick schweifen, grüßt vorbeifahrende Schiffer. Über den Zwischenstopp „Anita II" steigt er wieder in den „Erpel" und zieht sich an Land. „Jetzt geht's zum Mittagessen", sagt er. Vielleicht haut er sich einen Aal in die Pfanne. Dass die Behörden dem Fisch einen zu hohen Dioxingehalt zuschreiben, stört den 82-Jährigen wenig. „Mir hat der Verzehr noch nie geschadet."
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.