Der VfL Gummersbach war eine Handball-Legende. Doch Pfingsten 2019 stieg der Klub aus der Bundesliga ab - erstmals nach 53 Jahren. Ein Ortsbesuch vor dem Start in die Zweitklassigkeit zeigt, dass die Fans den Schock überwunden haben.
In Frank Helmensteins Büro liegt ein Stück Handball-Geschichte. Wenn der Bürgermeister der Stadt Gummersbach im Rathaus Gäste empfängt, präsentiert er gerne das 40 mal 50 Zentimeter große Holzteil. Es stammt aus der Sporthalle Reininghauser Straße. Über den Holzboden liefen einst die Handballer des VfL Gummersbach. Dort trainierten Ausnahmesportler wie Heiner Brand oder Joachim Deckarm - Helmensteins große Idole. Die Unterschriften der beiden Weltmeister von 1978 zieren das Holzstück.
Helmenstein ist seit seiner Kindheit Fan der Gummersbacher. Der heute 54-Jährige erlebte die großen Zeiten des Klubs von der Tribüne aus mit. In den 70er-Jahren und zu Beginn der 80er-Jahre zählten die Handballer aus dem Bergischen zu den Besten der Welt. Helmenstein bejubelte Meistertitel und Triumphe im Europapokal der Landesmeister. Er bangte aber auch um die Existenz seines Klubs. In den 90er-Jahre geriet der VfL in eine finanzielle Schieflage, viermal drohte der Lizenzentzug. Stets gelang die Rettung. Doch an Pfingsten 2019 vergoss der Bürgermeister Tränen. Seine Gummersbacher waren aus der Bundesliga abgestiegen. Zum ersten Mal. Nach zuvor 53 Jahren Erstklassigkeit.
Helmenstein war vor Ort, als dem VfL Gummersbach bei der SG Bietigheim am letzten Spieltag nur ein Remis gelang. Das Ergebnis reichte nicht zum Klassenerhalt. „Das war absolut irreal", erzählt der CDU-Politiker. „In dem Moment, als der Abstieg feststand, ist das Herz der Handballstadt Gummersbach stehen geblieben."
Trauer beim AbstiegDie Trauer ist bei Helmenstein aber längst der Zuversicht gewichen. Er öffnet sein Portemonnaie, zeigt seine Dauerkarte für die kommende Saison. Am 24. August wird der Bürgermeister im Block N, Reihe 2, Platz 3 sitzen und das erste Zweitliga-Heimspiel gegen Tusem Essen verfolgen. „Da steigt schon die Vorfreude", sagt Helmenstein. Und das gelte für viele VfL-Fans.
Es herrscht Aufbruchstimmung in der Stadt. Wer diese beobachten will, muss nur 800 Meter Fußweg vom Rathaus zurücklegen. Auf einem ehemaligen Firmengelände steht die Schwalbe-Arena. In der Multifunktionsarena trägt der VfL Gummersbach seit 2013 seine Heimspiele aus. Im Eingangsbereich erblickt der Besucher sofort die glorreiche Vergangenheit: Mannschaftsfotos weisen auf die Erfolge hin. Zwölf Deutsche Meistertitel. Fünf Titel im DHB-Pokal. Sechs Triumphe im Europapokal der Landesmeister, fünf im Europapokal der Pokalsieger. Die Gegenwart allerdings lautet Zweitklassigkeit: Wenige Wochen vor dem Saisonstart bittet Trainer Torge Greve zu einer Einheit. Die Fans können sich erstmals ein Bild von der neu formierten Mannschaft machen. Mehr als 500 Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen auf der Tribüne. Eine bemerkenswerte Kulisse für das Training eines Absteigers.
Die Zuschauer grölen besonders, wenn Torwart Filip Ivic einen Ball pariert. Der Kroate stand in der vergangenen Saison noch beim KS Kielce unter Vertrag. Mit dem polnischen Spitzenklub erreichte er das Final-Four-Turnier der Champions League. Ivic saß vor dem Fernseher, als die Gummersbacher den Klassenerhalt verspielten. Er hätte auf einen Wechsel verzichten können. Sein Vertrag galt nur für die Erste Liga. Ivic kam trotzdem nach Gummersbach.
Zuversicht der FansDas ist ein Verdienst von Geschäftsführer Christoph Schindler. „Er hat mich überzeugt, trotz des Abstiegs nach Gummersbach zu kommen", sagt Ivic. Nach der ersten öffentlichen Einheit schüttelt der 26-Jährige in einer Tour den Kopf. „Das ist unglaublich", sagt Ivic. „Wir trainieren hier nur und die Zuschauer bejubeln jeden gehaltenen Ball von mir. Das habe ich so noch nirgendwo erlebt."
Sein Teamkollege Tobias Schröter grinst. Der Rechtsaußen spielt schon seit 2007 in Gummersbach. Er stammt gebürtig aus der Nachbargemeinde Engelskirchen, weiß demnach, wie die Menschen aus der Region ticken. „Ich habe unseren Zugängen gesagt, dass die Zuschauer schon beim Training für Stimmung sorgen werden", erzählt Schröter. „Das haben die mir so recht nicht geglaubt."
Während die Spieler in die Umkleidekabinen verschwinden, versammeln sich die Zuschauer auf dem Heiner-Brand-Platz vor der Halle. Sie plaudern über die anstehende Saison. Das Abstiegsdrama aus Bietigheim ist kein Thema mehr. Im Pulk steht auch Claudia Thamm. Die 64-Jährige besucht schon seit mehr als vier Jahrzehnten Spiele. Sie reiste ihrem Klub nach Ungarn, Spanien und Frankreich hinterher. Mittlerweile ist Thamm Vorsitzende bei „Blue-White-Dynamite". 190 Mitglieder zählt der Fanklub. „Nach dem Abstieg ist keiner ausgetreten", sagt Thamm. „Die Fans bleiben uns auch nach dem Abstieg treu." Eine junge Frau tippt die erste Vorsitzende auf die Schulter. Sie steckt Thamm einen Zettel zu. Die Fanklub-Vorsitzende nickt zufrieden. „Das ist eine Neuanmeldung", sagt Thamm. „So was ist typisch für Gummersbach."
Als der Spielplan für die Zweitliga-Saison veröffentlicht wurde, griff sie sofort zum Terminkalender. „Ich richte meine Jahresplanung nach den Partien meines Vereins aus", berichtet Thamm. Sie versucht, einen Großteil der 34 Spiele mitzunehmen. Wie jede Saison. Nur diesmal heißen die Gegner nicht THW Kiel, SG Flensburg-Handewitt oder Rhein-Neckar Löwen. Die Auswärtsfahrten gehen zur DJK Rimpar Wölfe, zum HSC 2000 Coburg oder zur HSG Konstanz. „Das sind doch auch schöne Touren", betont Thamm.
Natürlich will sie bald wieder die deutschen Topklubs in den Duellen mit Gummersbach sehen. Thamm weiß aber auch, dass die Blau-Weißen sich nicht unter Druck setzen lassen wollen. Geschäftsführer Schindler hat einen Zweijahresplan für die Rückkehr in die Bundesliga ausgerufen. Einen längeren Aufenthalt in der Zweiten Liga wollen sie in Gummersbach vermeiden. Es gibt Beispiele anderer Traditionsklubs, die komplett in der Versenkung verschwunden sind. Der TV Großwallstadt beispielsweise, ein großer Rivale aus den 70er-Jahren, spielt ab der kommenden Saison nur noch in der 3. Liga Mitte.
Hoffnung auf AufstiegMario Falkenberg ist zuversichtlich, dass Gummersbach in naher Zukunft wieder erstklassig sein wird. Der Teamkoordinator arbeitet mit Unterbrechungen seit 1996 für den Verein. Er hat alles miterlebt: Drohende Insolvenzen. Erfolge im Europapokal. Ein Klassenerhalt am letzten Spieltag. Letztendlich den Abstieg. „Jetzt hoffe ich natürlich auf eine Aufstiegsfeier in naher Zukunft."
Die Halle und der Vorplatz leeren sich mittlerweile. Joachim Deckarm verspürt aber noch keine Lust, nach Hause aufzubrechen. Die Vereinslegende ist Stammgast in der Schwalbe-Arena, sieht Trainingseinheiten und Spiele, wann immer er kann. Seit seinem schrecklichen Sportunfall im Jahr 1979 sitzt Deckarm im Rollstuhl. Das Sprechen fällt dem 65-Jährigen schwer.
Filip Ivic hat sich seiner Torwart-Klamotten mittlerweile entledigt. Als der Neu-Gummersbacher Deckarm entdeckt, rennt er sofort hin. Ivic reicht ihm die Hand. Dann geht er nach draußen zu den wartenden Fans. Der Torwart schüttelt den Kopf und sagt: „Was für ein Verein."
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.