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Recken-Trainer Ortega: Von der europäischen Elite zum Underdog

Es klingt wie ein Handball-Märchen: Ehemaliger Weltklasse-Spieler wird Trainer bei Provinzverein und mischt die Bundesliga auf. Carlos Ortega und die TSV Hannover-Burgdorf haben mit dieser Geschichte Handball-Deutschland verzückt. Doch das Märchen gerät ins Stocken.

Schwer vorstellbar, dass dieser Mann auch mal still sitzen kann. Handballfans kennen Carlos Ortega entweder wild gestikulierend als Trainer an der Außenlinie des Überraschungsteams TSV Hannover-Burgdorf. Oder als erfolgreichen Spieler in Reihen des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft. Eine bewegte Handball-Vita, auf die der Spanier eigentlich ein weiteres i-Tüpfelchen setzen wollte: Den Pokalsieg mit Hannover im Final-Four-Turnier, das an diesem Wochenende in Hamburg stattgefunden hätte. "Mein persönlicher Traum ist, dass wir für den Pokal kämpfen", sagte Ortega noch Anfang März.

Doch dieser Traum liegt vorerst auf Eis. Statt Pokalfinale vor tausenden Fans ist für Ortega wegen der Corona-Krise vorerst daheim bleiben angesagt. Alle Profis und Mitarbeiter des Clubs sind auf Kurzarbeit. Ortega hat seinen Spielern einen Trainingsplan erstellt, damit sie sich zuhause fit halten. Kontakt zur Mannschaft hält er über WhatsApp. "Ich gehe nur zum Einkaufen raus", erzählte der 48-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.


Besonders Tor gegen THW Kiel

Ansonsten habe er jetzt viel Zeit, die er mit seiner Familie verbringen könne: Er spiele mit seinen vier Kindern Handball im Garten oder Brettspiele, oder telefoniere mit Angehörigen in Spanien. "Bei uns in Andalusien ist es nicht so schlimm wie in Barcelona oder Madrid", sagte er in dieser Woche in einem "Sportbuzzer"-Interview. "Aber ich habe in dieser Situation Angst um meine Eltern in Malaga, sie sind schon recht alt und nun komplett allein."

Dass ein ehemaliger Weltklasse-Spieler wie Ortega überhaupt beim ehemaligen "Dorfverein" aus Burgdorf bei Hannover gelandet ist, hat auch ein Stück weit mit seiner Familie zu tun. Doch von vorne: Die sportliche Bilanz des Spaniers ist beeindruckend. Sechsmaliger Champions-League-Sieger als Spieler mit dem FC Barcelona, 144 Spiele für die spanische Nationalmannschaft, Olympia-Bronze, EM-Silber. Als Trainer dreimaliger ungarischer Meister und Pokalsieger sowie Champions-League-Finalist mit dem Topteam aus Veszprém. Sein größtes Erfolgserlebnis zu definieren, fällt Ortega schwer: "Vielleicht haben wir einfach zu viel gewonnen."

Wobei, eine Sache fällt ihm doch ein: Das Champions-League-Finale im Jahr 2000, sein FC Barcelona im Rückspiel in der eigenen Halle gegen den THW Kiel. "Da habe ich in der letzten Minute das entscheidende Tor gemacht, das war schon besonders." Die Szene ist auf Youtube zu sehen: Ortega läuft von rechts außen ein, boxt den abgefälschten Ball unorthodox mit der Faust in die Maschen und fasst sich im Jubelgeschrei tausender Katalanen nur ungläubig an den Kopf.

Ortega: "Fände es schwierig, die Liga zu beenden"

Als sich Carlos Ortega im Juni 2017 entschied, Trainer bei Hannover-Burgdorf zu werden, waren solche Szenen bei den Niedersachsen schwer vorstellbar. "Die Recken", wie die Fans das Team nennen, hatten gerade eine miserable Rückrunde hinter sich und standen auf Platz 11 der Tabelle. Ortega war zu dem Zeitpunkt eigentlich kurz davor, einen Vertrag als brasilianischer Nationaltrainer zu unterschreiben, wie er erzählt. Doch dann hätte Hannover plötzlich Interesse signalisiert.

"Das ging dann alles sehr schnell", erinnert er sich. Schon nach dem ersten Gespräch mit den Verantwortlichen habe er ein gutes Gefühl gehabt, "Hannover hatte einen guten Kader, eine schöne Stadt - aber sehr wichtig war für mich auch: Hier gibt es eine internationale Schule für meine Kinder." Egal ob Spanien, Ungarn, Dänemark oder Deutschland - er gehe nirgends ohne Ehefrau Maria und seine vier Kinder hin. "Uns war immer wichtig, dass wir zusammen wohnen." In Hannover fühle sich die Familie inzwischen wohl und habe einen großen spanischsprachigen Freundeskreis.

Auch sportlich lief es in letzter Zeit rund, nachdem Ortega und die "Recken" die Vorsaison nur auf einem 13. Platz abgeschlossen hatten. Zum Saisonstart mischte sein Team Handball-Deutschland auf: Die ersten sieben Spiele allesamt gewonnen, den deutschen Meister Flensburg-Handewitt in der Liga bezwungen und beim 26:20 im Pokal phasenweise vorgeführt. Aktuell steht das auf Platz vier.

Durch die Corona-Krise ist diese Serie vorerst gestoppt. Ob und wann die Saison zu Ende gespielt wird, steht in den Sternen. "Es ist zwar nicht meine Aufgabe - aber ich fände es schwierig, die Liga zu beenden", meinte Ortega. Immerhin gibt es für das Final-Four-Turnier einen neuen Termin, es ist auf Ende Juni verschoben worden.

Bis dahin hat Ortega viel Zeit für seine Familie - und für seine Zukunftspläne. Sein Vertrag in Hannover ist bis 2021 gültig. Ob er bleiben will? "Ich bin sehr glücklich hier, meine Familie ist sehr glücklich hier", sagte er. Sein ältester Sohn schließe kommendes Jahr die Schule ab, dann werde er sehen. Entweder Hannover - oder eine andere Stadt mit einer internationalen Schule
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