1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Vor Mauritius zerbricht ein Öltanker. Und die Menschen schneiden sich die Haare ab

Die größte Naturkatastrophe, die sich vor den Stränden von Mauritius abspielt, ist der Klimawandel, der den Meeresspiegel immer weiter ansteigen lässt. Doch für die MV Wakashio war das Fahrwasser am 25. Juli trotzdem zu flach: Der japanische Tanker lief auf ein Riff vor der Küste auf und schlug Leck, etwa 1.000 Tonnen Öl liefen zunächst aus und bedrohen die unter Naturschutz stehenden Mangrovenwälder an der Küste. Am Wochenende ist es noch schlimmer gekommen: Das Schiff ist zerbrochen, weiteres Öl wird auslaufen. Immerhin haben Spezialteams zuvor einen Großteil der restlichen 3.000 Tonnen Öl abpumpen können.

Weil weitere Hilfe die entlegene Insel nur verspätet erreicht, helfen sich die Mauritier:innen mit einem Mittel, von dem fast jede:r etwas entbehren kann.


Der Haartrick

Haare binden ölige Substanzen – das weiß jede:r, der als Teenager:in mal ein paar Tage am Stück nicht geduscht hat und danach viel Shampoo einmassieren musste. Schon bei früheren Ölkatastrophen wurden Haare zur Bindung des Öls eingesetzt, 1995 bescheinigte zudem die US-Weltraumbehörde NASA einer Matte aus Menschenhaar gute Resultate.


Als die Bohrinsel Deepwater Horizon 2001 im Golf von Mexiko in Flammen aufging und einen der bis dato größten Ölteppiche verursachte, kam neben Hightech auch wieder Menschenhaar zum Einsatz. Vielen Menschen in Mauritius war also schnell klar: Was schon so oft funktioniert hat, hilft auch bei uns!


»Ich hatte sehr lange Haare, bis zur Mitte meines Rückens«, sagt Julie de Rosnay. »Vor 2 Tagen bin ich zum Friseur gegangen und habe gesagt: Schneide es ab!« Ich erreiche sie über eine digitale Telefonverbindung in ihrem Garten an der Westküste von Mauritius, als sie einmal zu weit vom Haus weggeht, ist kurz das WLAN weg. Julie sieht von ihrem Zuhause einen intakten Strand – die Ölpest liegt auf der anderen Seite der Insel, eine Autostunde entfernt. Sie fahre nur selten hin, sagt die Modedesignerin, die vom Versicherungsbüro ihres Mannes aus arbeitet. Ihr kommt eine Schlüsselrolle zu, die sie viel besser von zu Hause ausfüllen kann: Sie hilft bei der Koordination der Tausenden Haarspenden.


Was Julie de Rosnay über ihre abgeschnittenen Haare sagt, würden die meisten Freiwilligen wohl ähnlich formulieren: »Meine Haare wachsen nach, das ist schon okay. Wenn sie helfen, ein bisschen Öl zu binden, hilft das ein bisschen. Und wenn wir alle unsere Haare zusammentun, binden sie viele Liter Öl.«


Großer freiwilliger Einsatz

Freiwillige füllen die Haare in sogenannte Hairbooms, längliche Stoffwürste, die das Öl auf dem Wasser aufsaugen sollen – vor allem die kleinen Reste, wenn größere Mengen erst einmal abgepumpt sind.


Ein Kilo Haare soll 8 Liter Öl absorbieren – diese Zahl hat eine mauritische Abgeordnete in Umlauf gebracht. Ich konnte keine wissenschaftliche Quelle dafür finden, aber auch ohne diese Angabe ist sicher, dass viele Haare viel helfen. Genaue Zahlen über die Spenden gibt es nicht; Julie de Rosnay sagt, sie wisse von Tausenden. Friseurläden geben teils kräftige Rabatte, auch bei Fundraiserveranstaltungen können Mauritier:innen sich den Kopf scheren lassen.


Was anfangs ein spontaner Post bei Facebook war, ist inzwischen eine Maschinerie von Freiwilligen: »Am Anfang wollte jeder einfach nur helfen«, sagt Julie de Rosnay. »Inzwischen haben NGOs Strukturen errichtet, und mit der Hilfe von Expert:innen und der Regierung verläuft es in geregelten Bahnen.«


In Ländern wie Südafrika, Australien und Frankreich lägen auch schon »tonnenweise« Haare bereit, erzählt Julie de Rosnay, sie bräuchten nur noch eine Einfuhrerlaubnis der Regierung – und dann dauert natürlich der Transport noch eine Weile.


Einen Vorteil hat die entlegene Lage des Inselstaats: Nachdem die Einreise früh gestoppt wurde, gilt Mauritius inzwischen als frei vom Coronavirus. Trotzdem tragen die Freiwilligen bei ihren Einsätzen noch Schutzmasken – die eine Katastrophe macht schließlich schon genug Arbeit.




Der Inselstaat Mauritius

Mauritius zählt rund 1,3 Millionen Einwohner:innen und liegt rund 900 Kilometer östlich von Madagaskar im Indischen Ozean. Es ist der einzige afrikanische Staat, in dem der Hinduismus die am meisten verbreitete Religion ist. Das Land hat keine Amtssprache und keine Armee. Wichtigste Sprachen sind sowohl Englisch als auch Französisch. Neben dem Tourismus ist die Finanzbranche ein wichtiger Wirtschaftszweig.

Zum Original