Einst war der Gishwati-Wald der zweitgrößte Wald Ruandas. Dann wurden 98 Prozent gerodet, um Platz zu machen für Menschen und Landwirtschaft im am dichtesten besiedelten Land Afrikas. Die Ressourcen bleiben knapp – aber der Wald wächst inzwischen wieder.
Wenn Thierry Aimable Inzirayineza aus seinem Büro tritt und ein paar Schritte nach rechts geht, überblickt er ein Meer aus Bäumen. Das heißt, wenn der Gishwati-Wald heute ein Meer aus Bäumen ist, dann war er früher ein ganzer Ozean: „Der Wald reichte bis dort hinten, bis zum Mount Karisimbi“, sagt Inzirayineza, der für unser Gespräch zwei Stühle auf die Wiese gestellt hat. Am Horizont ist Ruandas höchster Berg durch den Dunst kaum zu erkennen. „Sogar hier, wo wir gerade sitzen, war Wald.“
Inzirayineza koordiniert die „Forest of Hope Association“ (FHA), die sich den Schutz des Gishwati-Waldes im Westen Ruandas zur Aufgabe gemacht. Der 32-Jährige hat ein lautes, ansteckendes Lachen – nur der Zustand, in dem seine Nichtregierungsorganisation den Wald übernommen hatte, der war nicht lustig.
Über Jahrzehnte zerstörten Anwohner, Regierung und westliche Geldgeber artenreiche Natur. Zwischenzeitlich waren nur noch zwei Prozent übrig von dem Regenwald, der auf der Wasserscheide zwischen den großen afrikanischen Strömen Kongo und Nil sitzt. In Ruanda ist Boden eine knappe Ressource; 12,4 Millionen Einwohner teilen sich eine Fläche kleiner als Brandenburg. Mit 489 Menschen pro Quadratkilometer ist Ruanda das am dichtesten besiedelte Land des afrikanischen Kontinents, Tendenz steigend.
Mehr als die Hälfte der Einwohner der Westprovinz sind Kleinbauern. Aber anders als viele Farmer in Südamerika, wo immer neue Brandrodungen zu einer ausgewachsenen Katastrophe wurden, pflegen die Bewohner der umliegenden Dörfer heute eine gute Nachbarschaft zum Gishwati-Wald. Auch dank Inzirayinezas Arbeit wächst der Wald, der nicht nur als Schutzraum für die bedrohten Schimpansen ökologisch sehr wertvoll ist, heute wieder.
98 Prozent Kahlschlag
Vor gut 50 Jahren erstreckte sich der Wald noch auf 28.000 Hektar, das ist ein Drittel der Fläche Berlins. Dann begann die ruandische Regierung, unterstützt von der Weltbank und europäischen Entwicklungsfonds, mit der Rodung: Auf dem kahl geschlagenen Land wurden Rinder gezüchtet, Kartoffeln angebaut und später auch zahllose Eukalyptusbäume als Brennstofflieferanten gepflanzt.
Nach dem Genozid der damals herrschenden Gruppe der Hutu an ihren Tutsi-Nachbarn 1994 und dem anschließenden Machtwechsel kehrten viele Tutsi aus Ruandas Nachbarländern zurück; viele hatten dort jahrelang ausgeharrt. Um Platz für rund 2000 Familien zu schaffen, wurde der Gishwati-Wald weiter abgeholzt. 2002 erstreckte er sich gerade einmal noch über 600 Hektar, 98 Prozent des ursprünglichen Walds waren vernichtet.
Infolge des Genozids von 1994 stoppten westliche Geldgeber ihre Zahlungen an das arme Land. Als sich die Lage unter dem neuen Präsidenten Paul Kagame wieder stabilisiert hatte, wurden neue Programme aufgelegt, die eine „rationale Nutzung“ der Ressourcen mit Umweltschutz verbanden. Der verbleibende Gishwati-Wald wurde ab 2002 geschützt und mit heimischen Baumsorten erweitert, denn es gab es nach wie vor eine große Artenvielfalt mit Schimpansen, anderen Primaten und zahlreichen seltenen Pflanzen.
Den staatlichen Programmen schlossen sich bald darauf auch US-amerikanische Naturschutzorganisationen und Spender an. Als infolge der Finanzkrise die Mittel gekürzt wurden, gründeten die ruandischen Mitarbeiter vor Ort ihre eigene NGO, die Forest of Hope Association. Auch sie ist von Spenden hauptsächlich aus den USA abhängig.
Nach einem verheerenden Erdrutsch 2009 wurde der zuvor kahl geschlagene und bewirtschaftete Hang wieder dem Wald einverleibt. Auch andere Randgebiete wurden wieder aufgeforstet, sodass der Wald allmählich auf seine aktuelle Fläche von etwas mehr als 1.500 Hektar heranwuchs. Die Anwohner der Region mussten wieder mit weniger Fläche auskommen. 2015 wurden die Waldgebiete von Gishwati und Mukura gemeinsam zu Ruandas vierten Nationalpark erklärt, über die neu ausgebaute Straße sollen in wenigen Jahren die Touristen kommen.
Wenn man heute mit dem Bus ins Dörfchen Kinihira fährt, ganz in der Nähe des Waldrandes, dann kann man beobachten, wie am Straßenrand Bäume mit silbrigen Blättern gefällt werden. Allerdings sind es keine heimischen Arten, sondern Eukalyptusbäume, die auf privaten Grundstücken außerhalb der Schutzzone stehen. Die Baumsorte soll langfristig einheimischen Arten weichen.
Zufriedene Kleinbauern
In Kinihira kennen alle den FHA-Koordinator Thierry Aimable Inzirayineza. Ständig ruft der 32-Jährige ein paar Sätze Smalltalk mit einem der Anwohner hin und her ohne seinen Gang zu verlangsamen. Erst bei Edison Kabenga bleibt er stehen.
Kabenga ist Kleinbauer, er ist vor 17 Jahren hierher gekommen, als die Waldfläche auf ihrer kleinsten Ausdehnung angekommen war. Seitdem seien die Anwohner immer zahlreicher geworden, sagt Kabenga. Das habe ihm aber nicht zum Nachteil gereicht – der 65-Jährige besitzt sogar genügend Land, um Wechselwirtschaft zu betreiben: An dem Abhang, wo gerade die 15 Kühe grasen, will er bald Mais pflanzen und die Kühe auf den nächsten Abschnitt schicken. Nach der Maisernte gibt er dem Boden Zeit, sich zu erholen, bevor er die Kühe wieder dorthin schickt.
Kabenga sagt, die bescheidene Aufforstung in der Gegend habe bereits positive Folgen gehabt: „Wir bekommen wieder genug Regen hier“, sagt Kabenga. Weil jeder Baum täglich Hunderte Liter Wasser verdampft, trägt der allmählich wieder wachsende Wald zu einem stabileren Mikroklima mit regelmäßigeren Niederschlägen bei. Kabenga ergänzt: „Das bedeutet genug Gras für die Kühe, mehr Kuhdung, und schließlich fruchtbarerer Boden.“
Zum Schutz des Gishwati-Waldes gibt es eine Pufferzone, in der landwirtschaftliche Aktivitäten beschränkt sind. Trotzdem stünden 80 Prozent der Bauern dem Schutz generell positiv gegenüber, sagt FHA-Koordinator Thierry Aimable Inzirayineza.
Das erklärt er sich mit Verbesserungen, die auch Kleinbauer Kabenga hervorhebt: Vor zwei Jahren wurde die Straße, die Kinihira mit den umliegenden Orten und schließlich mit den Städten Gisenyi und Kibuye verbindet, ordentlich ausgebaut und asphaltiert. Den Bauern eröffnet sie die Möglichkeit, ihre Erträge auf dem Markt zu verkaufen. Sie erleichtert auch die Anfahrt zu einer ebenfalls neu gebauten Milch-Sammelstelle, wo Kleinbauern wie Kabenga ihre frisch gemolkene Milch in Zahlung geben können.
Inzirayineza nennt die Zusammenarbeit mit den Farmern „community based approach“. Auf Feldern, die immer wieder von Wildtieren verwüstet werden, geben seine Mitarbeiter Ratschläge, welche Nutzpflanzen die Tiere in Frieden lassen – zum Beispiel Kartoffeln. Oder sie zeigen den Farmern, wie sie sich mit Bienenkörben einen kleinen Zusatzverdienst erwirtschaften, den sie wiederum in einen Zaun rund um ihr Feld investieren können. Außerdem bekommen Bauern, die mit FHA zusammenarbeiten, ein Handy und jeden Monat etwas Prepaid-Guthaben.
Warten auf Entschädigung
Es ist allerdings nicht so, dass alle Kleinbauern sofort profitieren. Inzirayineza führt den Reporter zum Haus von Marie Utamuliza, in dem die 44-Jährige mit ihren sechs jüngeren Kindern lebt, die beiden Ältesten sind zum Studieren in der Hauptstadt Kigali. Utamuliza lebt seit 18 Jahren in Kinihira, also fast seit der Gründung des Dorfes kurz nach dem Genozid. Ihr kleiner Acker wurde der Pufferzone des Waldes zugeschlagen, sie darf ihn nun nur noch eingeschränkt bewirtschaften. Zur Entschädigung hat sie eine Ziege und eine Kuh bekommen, aber bislang noch kein Geld. Sie hält sich als Verkäuferin an der Straße über Wasser.
Inzirayineza beeilt sich, ihre Äußerungen zu ergänzen, es seien noch Kompensationszahlungen geplant: „Dann kann die Dorfgemeinschaft doppelt profitieren – anschließend kann ihnen erlaubt werden, ihr früheres Land wieder zu nutzen.“ Utamuliza sagt, sie sei froh über die Naturschutzmaßnahmen und hoffe, dass sie zukünftig auch Jobs brächten.
Erziehung statt Strafe
Innerhalb des Nationalparks sind Kühe und andere Nutztiere tabu. Weidende Nutztiere machen den häufigsten Verstoß gegen die Parkregeln aus, sagt Inzirayineza. Für Forests of Hope sind sechs sogenannte EcoGuards im Wald unterwegs, einer von ihnen ist Alex Rzindana. „Wenn wir jemanden bei etwas Verbotenem erwischen, versuchen wir zuerst herauszufinden, ob es Unwissenheit oder Absicht war“, sagt der frühere Soldat, der die Armee verließ, um seine Familie öfter zu sehen. „Beim ersten und zweiten Mal klären wir ihn auf. Beim dritten Mal sprechen wir mit dem Dorfoberhaupt – der entscheidet dann, ob jemand bestraft werden soll.“ Die lokalen „Chiefs“ haben vergleichsweise viel Autorität, zumal Ruanda vom Präsidenten bis ins kleinste Dorf hierarchisch organisiert ist. Beim Aufklären gehe es vor allem darum, die Zusammenhänge des Ökosystems und den Wert von Naturschutz zu vermitteln – also zum Beispiel den Beitrag des Regenwaldes zu genügend Niederschlägen oder gegen Erdrutsche.
Illegale Minen im Wald
Das zweithäufigste Vergehen ist illegal Feuerholz schlagen, sagt Thierry Aimable Inzirayineza. Das dritte ist ein recht neues Phänomen: „Illegaler Bergbau ist zum Problem geworden, wir hatten plötzlich sieben bis zehn Fälle pro Monat“, sagt Inzirayineza. In der Gegend gibt es Coltan-Vorkommen; das Erz wird als Rohstoff für die Elektronik-Industrie immer wertvoller. Auch im Wald seien einige Löcher gegraben worden, „groß genug, dass 30 Menschen reinpassten.“
Auch diesmal wurden die Täter belehrt, Wiederholungstäter verpflichteten sich schriftlich, sich künftig an die Regeln zu halten. In einer großen Gemeinschaftsaktion verfüllten die FHA-Mitarbeiter gemeinsam mit Menschen aus den umliegenden Dörfern die Gruben: Jeden letzten Samstag im Monat ordnet die autoritäre Regierung ein sogenanntes „Umuganda“ an – einen landesweiten Aufräum- und Arbeitseinsatz, bei dem vom Arbeitslosen bis zur Abgeordneten alle anpacken müssen.
Die Maßnahmen hätten bereits Erfolg gezeigt, sagt Inzirayineza: „Inzwischen berichten unsere EcoGuards nur noch von zwei Vorfällen pro Monat.“
Die Zukunft: Der Tourismus
Ende September sollen die Waldwächter ihre Aufgabe offiziell an das Rwanda Development Board (RDB) übertragen, eine Regierungsbehörde, die unter anderem die vier Nationalparks verwaltet. Sie will die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung weiterführen: „Man kann so ein kleines Waldstück gar nicht schützen, ohne die Anwohner ins Boot zu holen“, sagt Eugene Mutangana, der für das RDB von Kigali aus den Prozess leitet.
Ein Vertrag mit einer Tourismusagentur ist unterschrieben, das erste Gästehaus steht bereits. Mutangana sagt, die Schimpansen sollen womöglich GPS-Tracker erhalten, damit Touristen sie auch zu Gesicht bekommen, „denn der Schimpanse ist unser wichtigstes Produkt hier“. Die Population hat sich, genau wie der Wald, wieder etwas erholt. „Wir schätzen, es dauert noch zwei bis drei Jahre bis wir sagen, wir haben ein touristisches Produkt das bereit ist für die Öffentlichkeit.“
In den Dörfern, die an den Gishwati-Wald angrenzen, verspricht man sich von den Besuchern und ihrem Geld großen Aufschwung. Wie dem Wald und seinen tierischen Bewohnern der Tourismus bekommt, wird sich zeigen – auf jeden Fall wird es ihm besser ergehen als in den Jahren der massiven Rodungen.
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