Südafrika hat die meisten HIV-Fälle weltweit - und mittlerweile auch das grösste staatliche Therapieprogramm. Ein technologischer Lösungsansatz soll die Defizite des Gesundheitssystems beheben.
Cornel Okote musste früher stundenlang anstehen, um seine Medikamente abzuholen. "Meistens wollte ich die Schlange vermeiden, also stand ich um halb fünf auf, um zur Klinik zu gehen", sagt der 50-Jährige, der in Alexandra lebt, einem der ärmsten Townships im Norden Johannesburgs. Oft kam er erst am späten Nachmittag zurück. Seit 2006 nimmt er Medikamente, die das HI-Virus in seinem Blut unterdrücken. Einmal im Monat muss Okote die staatlich finanzierten Tabletten abholen.
Seit einem halben Jahr kostet ihn das keinen halben Tag mehr, sondern nur noch wenige Minuten: Okote erhält seine Medikamente von einem neuartigen Apothekenautomaten, wie es sie bis anhin nur in Südafrika gibt. Die Automaten geben Anlass zur Hoffnung, dass sich die Medikamentenversorgung in den Armutsvierteln mit besonders hoher HIV-Rate endlich stark verbessert.
Zuma gelang die TrendwendeSüdafrika ist das Land mit den meisten HIV-Fällen weltweit; jeder fünfte HIV-positive Mensch lebt dort. 2017 waren es 7,2 Millionen Personen, das entspricht 12,8 Prozent der Bevölkerung. In der sexuell besonders aktiven Altersgruppe zwischen 15 und 49 Jahren liegt die Quote bei 18,8 Prozent. Inzwischen hat Südafrika das grösste staatliche HIV-Programm der Welt. Patienten haben Anspruch auf Medikamente, die die Viruslast - also die Konzentration der HI-Viren im Blut - in ihrem Körper stark reduzieren und ihnen so ein halbwegs normales Leben ermöglichen. Seit 2004 übernimmt die Regierung diese antiretrovirale Therapie. So versucht sie, die Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen.
Nach dem Ende des Apartheidregimes 1994 waren bereits 4,3 Prozent der Bevölkerung infiziert. Nelson Mandela, der erste schwarze Präsident Südafrikas, bedauerte später, das Virus nicht entschlossen genug bekämpft zu haben. Sein Nachfolger Thabo Mbeki ignorierte wissenschaftliche Erkenntnisse und lehnte Hilfsgelder zur HIV-Bekämpfung ab. Forscher haben errechnet, dass in Folge von Mbekis desaströser Politik mindestens 330 000 Menschen starben.
Die Trendwende gelang dann ausgerechnet Präsident Jacob Zuma - den viele als Kleptokraten in schlechter Erinnerung haben und der einmal behauptete, Duschen nach ungeschütztem Sex verringere das Ansteckungsrisiko. Die meisten Südafrikaner behielten ihren HIV-Status früher für sich, wenn sie ihn überhaupt kannten. Zuma sagte hingegen öffentlich, er sei HIV-negativ und liesse sich regelmässig testen. Als er 2010 eine grossangelegte Testkampagne startete, liessen viele Bürger erstmals ihren Status bestimmen. Gleichzeitig baute er das staatliche Therapieprogramm aus. Zum ersten Mal sank die Zahl der Neuinfektionen pro Jahr. 2017 steckten sich 231 000 Menschen in Südafrika mit HIV an - halb so viele wie fünf Jahre zuvor.
Wenig durchdachte ReformZumas Nachfolger Cyril Ramaphosa, setzt im Wesentlichen dessen HIV-Politik fort. Sein gesundheitspolitisches Grossprojekt ist eine von Grund auf neue staatliche Krankenversicherung nach Vorbild des britischen National Health Service (NHS). Derzeit existieren ein öffentlicher und ein privater Gesundheitssektor nebeneinander, wobei der private mit einem zehnmal so hohen Budget nur für 16 Prozent der Bevölkerung zuständig ist. Ramaphosa will diese Parallelstrukturen durchbrechen und ein einziges solidarisches System aufbauen. "Prinzipiell stossen diese Reformen auf viel Lob, allerdings bemängeln viele, dass die konkreten Vorschläge kaum durchdacht sind", sagt Vuyokazi Gonyela von der einflussreichen gesundheitspolitischen NGO Section 27, die nach dem Paragrafen der Verfassung benannt ist, der allen Bürgern den Zugang zum Gesundheitswesen garantiert. Sie befürchtet, "dass schlecht umgesetzte Reformen den Massnahmen gegen HIV schaden können, indem sie die Kontrolle im Gesundheitswesen verringern und der Korruption Tür und Tor öffnen". Unter anderem sieht ein Gesetzentwurf vor, dass die vormals auf Provinzebene angesiedelte Verwaltung und Budgetsteuerung des staatlichen Gesundheitswesens zentralisiert wird.
Bei Section 27 überwacht Gonyela die Massnahmen, mit denen Südafrika HIV weiter bekämpfen und die 90-90-90-Ziele der Vereinten Nationen erreichen will: Bis 2020 sollen 90 Prozent der HIV-Infizierten über ihren Status Bescheid wissen, von ihnen sollen 90 Prozent in Behandlung sein und bei wiederum 90 Prozent aus dieser Gruppe soll die Viruslast durch Therapie dauerhaft niedrig bleiben. Rechnerisch sollen bald also 81 Prozent aller HIV-Positiven Medikamente erhalten, bisher sind es 61 Prozent. Bei keinem anderen der 90-90-90-Ziele ist der Nachholbedarf so gross. Viele Menschen liessen sich zwar auf HIV testen, aber begännen nie eine Behandlung oder brächen diese ab, sagt Vuyokazi Gonyela. "In beiden Fällen ist das tiefer liegende Problem das schlechte Gesundheitswesen in Südafrika."
Viele brechen Therapie abViel zu wenig Personal, überfüllte Stationen, ausbaufähige Hygiene - dieses Bild zeichnet ein Besuch im Chris Hani Baragwanath Hospital, kurz "Bara", in Soweto. Mit etwa 3200 Betten ist es das grösste Krankenhaus Afrikas und das drittgrösste weltweit. Weil die Klinikleitung die Presseanfrage abwiegelt, muss man sich als Medizinstudent ausgeben, den ein deutscher Arzt durch den Komplex führt. "Bara hat die Tradition, dass niemand weggeschickt wird, auch wenn die Papiere nicht stimmen oder jemand aus einer anderen Provinz kommt", sagt der Arzt. In den länglichen Baracken stehen je dreissig Betten dicht an dicht. Gedämpftes Stöhnen und ausgemergelte Gesichter auf beiden Seiten des schmalen Ganges, nur an wenigen Betten schaffen zerschlissene Vorhänge etwas Privatsphäre. In den schlimmsten Jahren gingen hier 50 bis 60 Prozent der Todesfälle auf das Konto von Aids und in der Folge auftretenden Erkrankungen wie Tuberkulose.
Heute beobachtet Vuyokazi Gonyela von Section 27 ein neues, beunruhigendes Phänomen: "Viele Menschen, die mit HIV-Folgeerkrankungen ins Krankenhaus kommen, waren zuvor in Therapie und haben sie abgebrochen." Das liegt auch am oft mühsamen Zugang der Patienten zu den kostenlosen Tabletten. Geschichten wie die von Cornel Okote, der Monat für Monat viele Stunden bei der Medikamentenausgabe warten und häufig dafür Ferien nehmen musste, sind eher die Regel als die Ausnahme.
Roboter liefern MedikamenteMan müsse "alle erdenklichen Massnahmen ergreifen, um es den Menschen leichtzumachen, ihre Behandlung fortzusetzen", sagte Gesundheitsminister Aaron Motsoaledi bei einer HIV-Konferenz 2016. Vor dem Fachpublikum in Durban stellte er das Konzept der automatisierten Medikamentenausgabe vor.
Der HIV-Patient Okote besuchte an einem Samstag im April erstmals den Apothekenautomat in Alexandra. "Er sieht aus wie ein Geldautomat und funktioniert genauso einfach", sagt er. Der Automat in Alexandra war bei der Einweihung im März der weltweit erste seiner Art, mittlerweile gibt es fünf Automaten im Grossraum Johannesburg. Nach dem Ende der Pilotphase im Jahr 2020 dürfte die Zahl stark steigen.
Ist man einmal registriert, dauert die Ausgabe nur zwei bis drei Minuten: Patienten melden sich mit ihrer Chipkarte an und werden in einem kurzen Videotelefonat mit einer Apothekerin verbunden. Ist alles in Ordnung, autorisiert sie vom Callcenter aus die Ausgabe. Im Raum hinter der Wand fährt ein Roboter zum richtigen Regalfach, die Tablettenschachteln werden automatisch etikettiert und rutschen ins Entnahmefach. Im November erhielten so allein in Alexandra 3800 Patienten ihre Medikamente, Tendenz steigend. Bei Bedarf können die Automaten rund um die Uhr betrieben werden. Trotz den Anschaffungskosten von umgerechnet 125 000 Euro pro Einheit gelten sie als kosteneffizient.