Andreas Krieg: Anders als in den VAE steht die Mehrheit der Saudis einer diplomatischen Normalisierung und Israel generell sehr kritisch gegenüber. Aber eine wachsende Minderheit erkennt auch den Nutzen eines guten Verhältnisses zu Israel. Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) verfolgte ursprünglich den Ansatz, bilaterale Treffen auf sehr hoher, aber inoffizieller Ebene mit Entscheidungsträgern aus Israel zu organisieren. Bisher ist aber kein Abkommen geschlossen worden, weil die Saudis Angst haben, dass eine Annäherung nicht von der öffentlichen Meinung mitgetragen würde. Die israelisch-palästinensische Eskalation der letzten Wochen hat die saudische Bevölkerung in dieser Einschätzung bestärkt. Dazu kommt die kritische Haltung der Königsfamilie zu Israel - insbesondere zur Besetzung Palästinas.
In den VAE sieht das anders aus.Die VAE hatten über das letzte Jahrzehnt hinweg schon ein sehr gutes Verhältnis zu den Israelis - vor allem auf der Arbeitsebene, wenn es beispielsweise um geheimdienstliche Kooperation ging. Insgesamt bestanden da schon gute Beziehungen, die nur noch formalisiert werden mussten. Die VAE haben außerdem den größten Einfluss auf die öffentliche Meinung am Golf und können diese bestens kontrollieren. Sie sind der Überwachungsstaat in der arabischen Welt und müssen sich daher auch keine Sorgen um die öffentliche Meinung zu diesem Thema machen. Aus geostrategischer Perspektive stehen sie deutlich besser da als Saudi-Arabien und haben an sich selbst den ambitionierten Anspruch, als Vermittler zwischen Ost und West aufzutreten.
Steht der von Ihnen beschriebene Siegeszug der VAE in den letzten Jahren im Einklang mit den Interessen Israels?Absolut. Aus eigenen langjährigen Erfahrungen in Israel und dem häufigen Austausch mit den dortigen Institutionen kann ich sagen, dass die Israelis den Arabischen Frühling von Anfang an als Problem wahrgenommen haben. Zumindest seit dem Friedensabkommen mit Ägypten 1979 war es für Israel immer relativ einfach, sich mit den umliegenden arabischen Ländern irgendwie zu einigen. Meistens handelte es sich um autokratische Systeme, in denen es einen Mann mit absoluter Macht gab, an den man sich wenden konnte.
Die Massenmobilisierungen in Solidarität mit den Palästinensern, die sich momentan in der Region beobachten lassen, sind etwas, wovor sich die Israelis ganz besonders fürchten und immer gefürchtet haben. Durch den Arabischen Frühling wurde in vielen Ländern der Aufstand "von unten" überhaupt erst möglich. Israel wollte nie, dass demokratisch gewählte Regierungen in der Region die Araber vertreten, weil man Angst hatte, sich dadurch den arabischen beziehungsweise palästinensischen Interessen unterordnen zu müssen. Wegen dieser Gefahr der Subversion haben Israel und auch die VAE den Arabischen Frühling immer als Arabischen Winter gesehen. Sie verfolgen diesbezüglich die gleichen Interessen
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Islamismus?Die Israelis betrachten den Islamismus, oft auch "politischer Islam" genannt, als eine absolute Bedrohung für den Staat Israel. Das lässt sich insofern nachvollziehen, als die Islamisten seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer Narrative benutzt haben, die für ein freies Palästina und gegen den Zionismus und die Kolonisierung Palästinas argumentiert haben. Israel hat Islamismus und Terrorismus stets gleichgesetzt - man denke nur an die Darstellung der Hamas. Es gibt keine nuancierte, differenzierte oder balancierte Betrachtung des politischen Islam.
Da werden alle, von den moderatesten Islamisten, die selbst Israel und eine Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren, bis hin zum IS und Al-Qaida über einen Kamm geschert. Dabei wird vergessen, dass viele dieser islamistischen Organisationen einen unwahrscheinlich starken Rückhalt in den einzelnen arabischen Ländern haben. Allein schon aufgrund der hohen Anzahl an Menschen, die sie hinter sich vereinen, müssen auch islamistische Organisationen Teil der Lösung der Konflikte in dieser Region sein.
"Die meisten emiratischen Bürger standen nie hinter der Normalisierung mit Israel"
Welche Position vertreten diesbezüglich die VAE?Auch die VAE betreiben diese Form der Gleichsetzung: Während der Krise mit Katar ging es ja anfänglich auch um den Vorwurf der Unterstützung von Terroristen. Dabei standen nicht der IS oder Al-Qaida im Fokus, sondern Gruppierungen wie die ägyptische Muslimbruderschaft. 2017 haben die VAE den USA eine Liste der Organisationen übergeben, die sie als islamistisch und terroristisch einstufen. Das waren über 100 Einträge, von denen die Hälfte in den USA als ganz normale zivilgesellschaftliche Organisationen tätig sind.
Haben die normalisierten Beziehungen zwischen Israel und den VAE einen Einfluss auf die aktuelle Konfliktsituation in Israel und Palästina?Ja, auf einer indirekten Ebene: Es werden beispielsweise, wie eben aufgezeigt, die gleichen anti-islamistischen Narrative geteilt. Sehr interessant zu beobachten ist, dass emiratische Influencer zum Sprachrohr der israelischen Hasbara geworden sind.
Was genau meinen Sie damit?Hasbara ist Hebräisch und bedeutet "Erklärung". Dahinter steht die Idee, sowohl in Israel als auch im Ausland, insbesondere in sozialen Netzwerken, für die Interessen Israels zu mobilisieren. Hinter Hasbara stehen gewisse Narrative, die auch immer wieder Einzug in die deutsche Presse finden, etwa in die Bild-Zeitung. Nach dieser Logik sind Hamas-Mitglieder immer die Bösen, Israelis die Guten, Kriegsverbrechen werden ausschließlich von der Hamas begangen und der Grund für die Instabilität in Israel sind die bösen Araber - eine sehr einseitige Darstellung, die auch offiziell von Israel verbreitet wird. Nun sind auch emiratische Influencer innerhalb eines autoritären Systems, wo jegliche politische Form der Mobilisierung und Debatte verboten ist, aktiv in diesen Konflikt eingestiegen, allerdings nicht auf Seiten der Palästinenser, sondern für Israel. Das ist ein Novum.
In welcher Verbindung stehen diese Influencer zu Israel?Sie werden sicherlich nicht von Israel finanziert. Einige von ihnen sind aber häufiger nach Israel geflogen, um im Rahmen der Abraham Accords pro-israelische Propaganda zu machen. Die Facebook-Seite "Nas Daily" des palästinensischen Israelis Nuseir Yassin mit über 20 Millionen Abonnenten zum Beispiel. Er selbst besitzt einen israelischen Pass und lebt mittlerweile in Dubai. Zudem ist belegt, dass Yassin Geld von den VAE bezieht. Seine Beiträge erscheinen auf den ersten Blick unpolitisch und beinhalten subtile, pro-emiratische, pro-israelische und anti-palästinensische Botschaften.
Auch hier taucht die beschriebene Gleichsetzung von Islamismus und Terrorismus auf. Bisher war es so, dass die VAE in Bezug auf Gaza, sowohl 2009 als auch 2014, immer eine eher passive, neutrale Rolle eingenommen haben. Die meisten emiratischen Bürger standen allerdings nie hinter der Normalisierung mit Israel, auch wenn sie das nicht öffentlich sagen dürfen. An diesem Punkt erkannte das Regime die Notwendigkeit, präventiv zu handeln und Einfluss auf die interne Debatte auszuüben. Dies geschieht nun unter anderem über Influencer, was natürlich von offizieller Seite dementiert wird.
"Die Arabische Liga hat kaum Einfluss darauf, wie sich Staaten verhalten"
Die Arabische Liga, in der natürlich auch die Golfstaaten Mitglieder sind, hat letzte Woche Israel der ethnischen Säuberung beschuldigt und die Angriffe auf Gaza geschlossen verurteilt. Welche Bedeutungskraft hat so ein Statement?Ein Statement oder ein gemeinsamer Abschlusssatz der Arabischen Liga hat nicht mehr den Wert, den er noch vor 50 Jahren hatte. Es ist jedoch sehr wichtig anzuerkennen, dass alle Länder, die ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, eine Sache absolut unterschätzt haben: Ein weiterer Konflikt, wie die Eskalation in Gaza, führt zu einer Massenmobilisierung, die auch für die jeweiligen Regime gefährlich werden kann. Für die VAE ist das kein Problem. Sie haben es geschafft, die wütenden Reaktionen der arabischen Straße durch Social Media, eigene starke Narrative und Repression erfolgreich abzufangen. Die Arabische Liga hat als internationale Organisation jedoch kaum einen Einfluss darauf, wie sich Staaten verhalten.
Wo sehen Sie aktuell das Potential einer Lösung für die erneute Eskalation des Konflikts?Wichtig zu klären wäre zunächst, was die Ausmaße dieses Konflikts eigentlich sind. Katar und Ägypten haben nun mit den Amerikanern zwischen der Hamas und Israel vermittelt, wodurch ein Waffenstillstandsabkommen erreicht wurde. Das beendet aber natürlich nicht den eigentlichen Konflikt. Was dieses Mal neu ist, anders als noch 2009 oder 2014, ist die Mobilisierung innerhalb Israels und des Westjordanlands. Die ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass eine Schlichtung äußerst schwierig wird, selbst dann, wenn die Konfrontation mit der Hamas zurückgefahren wird. Das sehe ich momentan als das eigentliche strategische Problem. Das US-amerikanische Engagement ist viel zu sehr auf eine kurzfristige Deeskalation zwischen Israel und der Hamas beschränkt.
Was schlagen Sie vor?Der Ursprung dieses Konflikts sollte überhaupt erst einmal angesprochen werden. Erst dann kann eine Lösung für die Palästina-Frage gefunden werden. Von den Israelis ist jedoch mit keinerlei Zugeständnissen zu rechen. Falls nun zum fünften Mal innerhalb von zwei Jahren gewählt wird und Netanyahu wieder ähnlich abschneiden sollte wie zuletzt, wird er seine Politik vermutlich weiterführen: Er wird mit seinen rechtsextremen, nationalistischen und rassistischen Koalitionspartnern die ethnischen Säuberungen vorantreiben - insbesondere in Ostjerusalem. Die israelischen Siedlungspläne sollten sofort gestoppt werden.
Ich sehe aber niemanden, der den Willen hat, tatsächlichen Druck auf Netanyahu oder seine Regierung auszuüben. Allerdings werden sich die Palästinenser dieses Momentum der Mobilisierung nicht nehmen lassen und solange auf die Straße gehen, bis es zu irgendwelchen Zugeständnissen kommt. Auf dem Weg dahin wird es sicherlich viele Unruhen geben, insbesondere in den sogenannten gemischten Städten, in denen jüdische und palästinensische Israelis zusammenleben.
"Weder Katar noch Ägypten werden sich darum kümmern, die dritte Intifada zu verhindern"
Könnten nicht auch hier Katar und Ägypten vermitteln?Da denkt momentan keiner drüber nach, wie man das deeskalieren könnte. Das ist primär ein internes Problem für Israel. Da müssen sich die Israelis jetzt überlegen, wie sie das lösen können. Weder Katar noch Ägypten werden sich darum kümmern, die dritte Intifada zu verhindern.
Erschwert es den Prozess der Deeskalation, dass Netanyahu auch ganz persönlich von der militärischen Auseinandersetzung mit der Hamas profitiert?Auf jeden Fall. Die Hamas und Netanyahu profitieren von der Gewalt und den extremistischen Narrativen. Die Radikalen auf beiden Seiten - Hamas und Netanyahus Regierung - instrumentalisieren sich gegenseitig. Das wird auch im israelischen Diskurs so thematisiert, nach dem Motto: Wir brauchen die Hamas, denn solange es sie gibt, können wir jegliche Fragen nach der eigenen Legitimität zur Seite wischen. Wir müssen uns ja schließlich gegen Terroristen verteidigen.
Wo positioniert sich die Bundesregierung in diesem Diskurs?Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte kann keine Bundesregierung eine wirklich konstruktive Position einnehmen. Es gibt keine differenzierte Debatte - und ich meine damit nicht nur die Bild-Zeitung, sondern die politische Mitte. Deutschland gilt aber auch nicht als ernstzunehmender Partner, von dem sich Israel irgendetwas sagen lassen würde. Als Heiko Maas nach Israel reiste, war von Anfang an nicht davon auszugehen, dass die Israelis die Bundesregierung als ebenbürtigen Gesprächspartner betrachten würden. Das ist die Schande: Deutschland spricht weder für die Palästinenser, noch für die Israelis und hat auf beiden Seiten keinen produktiven Einfluss.
Vermutlich hätte sich das Narrativ in Deutschland anders entwickelt, wenn sich die Hamas nicht in die Ausschreitungen in Jerusalem eingemischt hätte. Meines Erachtens war das ein riesiger strategischer Fehler, weil die daraus resultierende Eskalation vom eigentlichen Problem ablenkt. Dieses politische Problem - die unterschiedlichen Rechte für Israelis und Palästinenser - ist noch längst nicht gelöst. Auch jetzt nach dem Waffenstillstandsabkommen werden Unsicherheit und Instabilität Israel, Palästina und vor allem Jerusalem prägen.
Dr. Andreas Krieg ist Assistenzprofessor für Internationale Sicherheit am Londoner King's College. Von 2013 bis 2017 war er für den Generalstab des Staates Katar beratend tätig.