Hin und wieder passiert es dann doch. Die große Politik und das Leben der kleinen Leute prallen so stark aufeinander, dass sie miteinander verschmelzen. Und das mitten im Wohnzimmer. Dann gelingt es, dass die großen Themen auf den gedeckten Festtagstischen landen und dort hin und her gewälzt werden, trotz all der Frustrationen mit der Politik oder auch gerade weil unverschämte und korrupte Politiker*innen an diesem kalten Dezembernachmittag das Blut schnell aufkochen lassen. Gestern war so ein Moment.
Zwischen zerquetschten Mandarinen, halbnackten Schokonikoläusen und verschmierten Kinderfingern saß der ungarische Ministerpräsident und wurde von den umhersitzenden Familienmitgliedern herumgereicht, analysiert und kommentiert.
Ich saß unter ihnen und hatte noch das Ö1-Interview meiner ehemaligen Professorin Ellen Bos (Andrássy Universität) im Ohr. Sie wurde bei der Anrufsendung von einem Zuhörer gefragt, ob die EU noch Handschlagqualität habe, wenn laufend neue Kritikpunkte an Orbáns Politik dazukommen würden und dadurch Ungarns Bemühungen, diese zu erfüllen, nicht anerkannt werden.
Hintergrund der Debatte war das gestrige Treffen der EU-Finanzminister*innen, bei dem sie darüber entscheiden sollten, der Empfehlung der Kommission zu folgen und Fördermittel für Ungarn in Höhe von 7,5 Milliarden Euro einzufrieren. Diese hatte zuvor festgestellt, dass die Regierung in Budapest die bisher identifizierten Schwachpunkte im Rechtstaat nur unzureichend durch notwendige Reformen ausgebessert habe. Dabei ging es unter anderem um die Forderung nach der Schaffung einer Kontrollbehörde, der Ungarn zwar nachkam, die aber derzeit nach Ansicht vieler Expert*innen politisch abhängig sei. Zu den 17 Punkten zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit kommen noch Maßnahmen, die garantieren sollen, dass die umfassenden EU-Förderungen aus dem Wiederaufbaufonds unter kontrollierten und fairen Bedingungen verteilt werden und nicht in den Taschen korrupter Politiker*innen und regierungsnaher Unternehmer*innen landen.
„Mit Zuckerbrot und Peitsche gegen Ungarn", titelte daraufhin das Ö1-Magazin - eine Formulierung, die uns von der EU-Politik dort in Brüssel schnell zurück ins Wohnzimmer transportiert. Hier wird nun bei Kaffee und frisch gebackenen Keksen diskutiert, warum einer von 27 Regierungschef*innen die ganze Union in Geiselhaft halten könne. Ob und welche Bestrafung angemessen sei. Denn Viktor Orbán blockiert mit seinem Veto dringende Entscheidungen, u.a. jene über weitere Hilfen für die Ukraine im Umfang von 13,3 Milliarden Euro. Andere argumentieren, dass es doch Orbáns Recht sei, eine Entscheidung nicht mitzutragen und die Vorwürfe der mangelnden Rechtsstaatlichkeit übertrieben seien. So hätten doch auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz.
Es dauert auch nicht lange, bis die jüngsten Korruptionsvorwürfe in Österreich genannt werden und ein allgemeines Kopfschütteln einsetzt. Es ginge hierzulande mittlerweile so weit, dass Werbeagenturen ihre Inspirationen aus der österreichischen Innenpolitik schöpfen könnten ...