Daniela Biehl

Journalistin/Presse, Hessen I BW I Bayern

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Feature

Wohnwagen statt Dienstwagen

Thomas Weiß war einmal erfolgreich, er hatte eine Familie, einen guten Job und eine Wohnung. Heute lebt er in einem Wohnwagen. Aus eigener Erfahrung weiß er: Es könnte schlimmer sein.

Von Daniela Biehl

Es ist kalt, um die null Grad. Thomas Weiß lehnt an der Fensterbank seines Wohnwagens, wärmt seine Hände an einem heißen Becher Kaffee und blickt nach draußen, wo es stürmt. "Das Gas ist mir ausgegangen", sagt er. Über das Wochenende wird Weiß nicht heizen können. Es wird noch kälter werden. Und doch nicht so kalt wie vor zwei Jahren, als der damals Neunundvierzigjährige im Winter auf der Straße lebte. Als er im Günthersburgpark schlief und, von einer Depression geplagt, keinen Ausweg mehr sah. Sozialarbeiter der Caritas hatten ihn damals aufgefangen und gewährten ihm Unterschlupf in einem Wohnwagen nahe der Maria-Rosenkranz-Kirche in Seckbach.

Weiß mag es leger, er trägt Sportschuhe, Ohrringe und eine Mütze. Vier Kerzen hat er sich angezündet, damit es behaglicher wird in seinem Wohnwagen. Und auf dem Tisch liegen Kastanien. Weiß kann reden, das konnte er immer schon. Er ist neugierig, stellt viele Fragen - und er lacht oft. Das Lachen, sagt er, habe ihn durch schwierige Zeiten gebracht. "Verbittert will ich nicht werden."

Gestapelt auf dem Tisch vor ihm liegen abgeheftete Blätter, Ordner mit Bewerbungen, Rechnungen und Prozessakten, Fotos und Erinnerungen. Ein ganzes Leben in ein paar Ordnern. Weiß zieht seine Vita heraus und liest vor: Aufgewachsen in einem Dorf nahe Stuttgart. In die Lehre gegangen bei einer großen Druckerei. Dort geblieben, 16 Jahre lang, erst in der Verwaltung, dann im Vertrieb und später in einem kleineren Büro der Druckerei im Rhein-Main-Gebiet.

"Es gab diese gute Zeit", sagt Weiß. "Da war ich erfolgreich." Da war er ein Weltenbummler und bereiste die halbe Welt, 30 Länder, vier Kontinente. Er hatte eine schöne Wohnung, eine Frau und eine Tochter. Und er war glücklich. Das war, lange bevor die Druckerei in Konkurs ging. Bevor er sich notgedrungen selbständig machte. "Ich wollte Grafiker und Unternehmen aus meiner Branche beraten", sagt er. Das war im Jahr 2000. Die Medienwelt war im Umbruch, viele Firmen wollten ins digitale Zeitalter, und Berater waren gesucht. Von der Bank bekam Weiß ein Unternehmensdarlehen. Seine Lebensversicherung hatte er als Sicherheit angegeben - und am Anfang lief es gut.

Nach vier Jahren aber, als die ersten Kunden ihre Rechnungen nicht bezahlten und Neukunden ausblieben, geriet Weiß in Zahlungsschwierigkeiten. Die Bank kündigte den Kredit, nahm das Geld aus der Lebensversicherung, schickte einen Gerichtsvollzieher - und plötzlich stand Weiß mit einem Berg Schulden da. "Es war nicht nur die Bank, auch das Finanzamt forderte Geld. Und dann waren da Anwaltskosten, weil ich mich zu wehren versuchte, gegen die Kündigung der Druckerei, gegen meine Kunden, die nicht zahlten, gegen die Bank und das Finanzamt", sagt Weiß, und seine Augen beginnen zu funkeln. Wie so oft, wenn er sich über Bürokratie ärgert. Und darüber, wie man mit Menschen in Not umgeht. "Ich habe ja nie böswillig gehandelt", sagt Weiß.

Die Prozesse, die Schulden, die Streitereien, all das belastete auch seine Beziehung. 2006 ging sie in die Brüche. Weiß hielt es nicht mehr aus in der gemeinsamen Wohnung, kam vorübergehend bei Freunden unter oder schlief mal im Auto, mal im Hotel und mal bei seiner Schwester. 2007 fand er wieder Arbeit. Zwei Jobs machte er, um sich finanziell über Wasser zu halten. Tagsüber verkaufte er Kleidung und wurde Gebietsmanager des Modelabels. Nachts war Weiß als Kurierfahrer unterwegs. Hotels waren ihm zu teuer, meist schlief er im Auto. Wenn er zum Schlafen kam.

2013 dann der nächste Dämpfer: Weiß wurde krank, er musste ins Krankenhaus und den Job als Kurierfahrer aufgeben. Das Label kündigte ihm fristlos. Man warf ihm Spesenbetrug vor. Und Weiß zog vor Gericht. Er gewann, jedenfalls offiziell. Das Modelabel nahm den Betrugsvorwurf zurück, entschuldigte sich - und hielt doch an der Kündigung fest. Für ein Jahr wurde Weiß freigestellt, ab 2014 galt er als gekündigt. Er verlor sein Firmenauto, kam in einer Wohnung in Bornheim unter, jedoch ohne Mietvertrag, meldete sich bald arbeitslos, rutschte in Hartz IV. Und weil das Amt ihm die Wohnung nicht zahlte - er könne ja schließlich keinen Mietvertrag vorweisen -, er auf dem Wohnungsmarkt aber schlicht keine Wohnung fand und die 350 Euro Hartz IV für Essen und Kleidung benötigte, traf er 2015 eine Entscheidung: "Dann eben ohne Wohnung", sagt er sich.

Zu seiner Schwester nach Stuttgart ziehen wollte Weiß nicht. Dann wäre er zu weit von seiner Tochter entfernt gewesen. Und in gewisser Weise sei ihm die Obdachlosigkeit gerade recht gekommen. "Ich war damals lethargisch und depressiv. Noch länger in der Wohnung zu bleiben, hätte mich wahrscheinlich erdrückt", sagt er heute. Er wollte raus. Er brauchte Luft.

Weiß verbrachte die Nächte auf einem Spielplatz im Günthersburgpark. Er schlief dort im Sand, eingerollt in einen Schlafsack oder auf einer Hängeschaukel mit Handtüchern bedeckt. Zwei Rucksäcke hatte er bei sich. Einen mit Kleidung, Handtüchern und Waschzeug, den er tagsüber im Gebüsch versteckte, um ihn nicht mit sich herumtragen zu müssen. Und einen Tagesrucksack mit Wertsachen, Geld und einer Tüte, um unterwegs Flaschen zu sammeln.

An guten Tagen, wenn das Wetter schön war, saß Weiß tagsüber am Main, ging spazieren oder kaufte sich etwas zu essen. Oft an Imbissbuden oder in Cafés, dort, wo es etwas schnell Verzehrbares gab. Er konnte ja nichts aufbewahren und hatte auch nicht viel Geld. "Acht bis neun Euro am Tag für Essen, zwei bis drei Euro für das Waschen und Duschen, das musste reichen." Das war Geld, das ihm durch Hartz IV zustand, und Geld, das er sich durch das Sammeln von Pfandflaschen verdiente.

"Doch am schwersten war es, die Zeit totzuschlagen." An richtig guten Tagen, wenn Weiß in öffentlichen Bücherregalen einen spannenden Krimi entdeckte, las er ihn bis zum Abend zu Ende. Und manchmal, wenn er seine Tochter besuchte, die inzwischen zehn Jahre alt war, vertrieb ihm das die Zeit. An schlechten Tagen aber, wenn es regnete und stürmte, konnte er kaum irgendwo Zuflucht finden. "Man wollte mich nicht." Nur die Wettbüros hätten Milde walten lassen und ihn nicht weggeschickt.

Einmal sei er überfallen worden. Am Main, sagt Weiß. Sein ganzes Geld, das noch für zwei Wochen hätte reichen müssen, war mit einem Schlag fort. "Ich hätte betteln können, aber so tief wollte ich nicht fallen." Weiß zog es vor, weiter emsig Flaschen zu sammeln. Überhaupt hat er seinen Stolz - er hielt sich fern von den Obdachlosenunterkünften. Nicht, weil ihm solche Angebote missfielen. Und auch nicht, weil er den Bewohnern nicht traute. Sondern aus Selbstschutz. "Ich wollte nicht mit Alkohol oder Drogen in Berührung kommen", sagt Weiß. Sonst wäre er vielleicht nie aus der Obdachlosigkeit herausgekommen. "Wenn du einmal drin bist, geht die Spirale oft nur abwärts."

Die Würde verlieren, das wollte Weiß auch nicht, als er abends zurückging zu seinem Schlafplatz im Günthersburgpark. Der Spielplatz war dann häufig ein Treffpunkt für feiernde Jugendliche. Aus der Entfernung wartete Weiß, bis sie alle fort waren, und räumte die leeren Flaschen und Chipstüten weg, die andere achtlos auf den Boden geworfen hatten. "Sonst denken die Jogger am nächsten Morgen wenn sie mich sehen: Das war der Obdachlose."

Es regnet. Dicke Tropfen prasseln gegen das Fenster des Wohnwagens. Weiß zieht seine Mütze tiefer über die Stirn und erzählt, wie er nach einem Dreivierteljahr ohne Obdach, im November 2015, ans Aufgeben dachte. "Nichts Sinnvolles zu tun hat mich zermürbt. Ich dachte wirklich, wenn ich nicht mehr aufwache, dann ist alles gut." Doch die Geschichte, die Weiß erzählt, handelt nicht vom Resignieren. Sie zeigt vielmehr, dass Obdachlosigkeit keine Endstation sein muss. Auch wenn der Weg heraus steinig ist.

Für Weiß führte der Weg über die Caritas. Weil er dort, in deren Zentrum für Wohnungslose, ein Postfach gemietet hatte. Und weil er so fast wöchentlich mit Sozialarbeitern sprach. Irgendwann erzählte man ihm von den Wohnwagen, die die Caritas Obdachlosen zur Verfügung stellt - und Weiß bewarb sich für einen. Im Dezember 2015 konnte er einziehen. Das Nutzungsrecht galt erst einmal nur für ein Jahr und wird nun Jahr für Jahr verlängert. Bis Weiß eine Wohnung gefunden hat.

Sein Wohnwagen ist sechs Meter lang und zwei Meter breit. Es gibt einen Wohnbereich mit Küchennische, Tisch und Bank und einen Schlafbereich mit Bett. Ein kleines Radio und einen Fernseher hat Weiß sich aufgestellt. Doch eine Dusche und eine Toilette gibt es nicht, um beides zu nutzen muss Weiß ins benachbarte Gemeindehaus Maria-Rosenkranz. "Die meisten brauchen viel", sagt Weiß und schaut sich um auf seinen zwölf Quadratmetern. "Ich brauche nicht so viel."

Seit der Obdachlosigkeit ist sein Leben ein anderes. Materielle Dinge bedeuten ihm nichts mehr. Und an Freundschaften glaubt Weiß auch nicht mehr. Zu viele hätten sich von ihm abgewandt, als es ihm schlechtging. Geblieben ist ihm nur die Freiheit, sein Leben so zu leben, wie er es will.

Vor allem will er frei sein von staatlicher Hilfe. "Ich habe mich noch nie so entwürdigt gefühlt wie auf den Ämtern", sagt Weiß. Oder: "Beim Jobcenter wird man behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse." Wenn er im nächsten oder übernächsten Jahr eine richtige Wohnung findet und Anrecht auf Wohngeld hätte, will Weiß es nicht nehmen. "Zu den Ämtern gehe ich nie wieder." Hartz IV bekommt er schon gar nicht mehr, denn er hat längst wieder Arbeit gefunden. Bei einer Wohnungsbaugesellschaft in Niederrad, wo er seit 15 Monaten als Siedlungshelfer jobbt.

Weiß ist dort sozusagen Mann für alles: Er hält öffentliche Plätze sauber, kümmert sich um den Müll, putzt Wohnungen und Treppen und macht kleine Reparaturen. Er geht mit älteren Menschen einkaufen und unterstützt sie im Alltag. Diese Arbeit gebe ihm viel. Auch wenn er nur 1000 Euro im Monat verdient. Die Miete für seinen Wohnwagen, rund 160 Euro im Monat, zahlt er inzwischen selbst.

Die Kerzen, die Weiß aufgestellt hat, sind ausgegangen, er sucht nach einem Feuerzeug, zündet sie wieder an - und schmunzelt. "Es ist kalt hier, aber behaglich", sagt er. Ganz anders als auf der Straße. Ob er mit seiner Geschichte Mut machen wolle? Weiß hält inne, dreht an seiner Mütze und überlegt. "Nein", sagt er dann.

Doch er will zeigen, dass es einen Klischee-Obdachlosen nicht gibt. "Die Menschen denken doch immer: Wir sind Penner, sitzen am Straßenrand und trinken." Die Obdachlosen aber, die Weiß bei der Caritas und auf der Straße kennenlernte, waren nicht alle so. Viele waren in Altersarmut geraten, andere wie er arbeitslos und hochverschuldet. "Und manchen sieht man es nicht an: Die gehen dann mit schönen Taschen und in Anzügen Flaschen sammeln", sagt Weiß. Alles, um den Schein zu wahren.

Quelle: F.A.Z. , 08.12.2017