Das Kreisjugendamt meldet eine Zunahme an Fällen der Kindeswohlgefährdung in Corona-Zeiten. Im Villinger Haus Regenbogen der Arbeiterwohlfahrt sind Jugendliche sicher - vor ihren Eltern, aber auch vor sich selbst.
Von Daniela Biehl
Die reinen Zahlen wirken beunruhigend: Seit Corona nehmen die Fälle der Kindeswohlgefährdungen im Schwarzwald-Baar-Kreis zu. Wie Silke Zube, Leiterin des Kreisjugendamtes mitteilt, seien die Meldungen von Kindeswohlgefährdungen dieses Jahr um 30 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der Inobhutnahmen habe sich allein in den vergangenen drei Monaten fast verdoppelt – von zehn auf 17 Fälle im Vergleich zum Vorjahr. Doch „bei Gewalt gegen Kindern gibt es oft eine große Dunkelziffer“, sagt Zube.
Das Ungewissheit um die Dunkelziffer
Und gerade die macht Yasmina Zahn vom Haus Regenbogen große Sorgen. „Wir wissen nicht, was hinter verschlossenen Türen und Fenstern passiert. Die Dunkelziffer könnte erheblich gestiegen sein.“ Zahn fährt mit den Händen durch die Luft, als wolle nach etwas greifen. Etwas sichtbar machen, was noch nicht sichtbar ist.
Sie steht mitten in einem Kinder- und Jugendzimmer, rechts von ihr ein kleines Bett, darauf wild verteilte Kleidungsstücke, geöffnete Regale mit kleinen Erinnerungsstücken, an denen man merkt, hier wohnt eine Jugendliche. Mitten in der Pubertät.
Weil die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in VS anstieg, eröffnete die AWO 2016 das Haus Regenbogen. Inzwischen sind die Zahlen in dem Bereich so gesunken, dass das Heim seit einem Jahr der allgemeinen Jugendhilfe dient. Die aufgenommenen Kinder kommen aus ganz Baden-Württemberg. Neben dem Haus Regenbogen betreibt die AWO in VS noch drei weitere betreute Jugendwohngemeinschaften für Jugendliche ab 16 Jahren.
Yasmina Zahn leitet das Haus Regebogen, eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Villingen, das Kinder aufnimmt, wenn sie das Jugendamt aus ihren Familien holt. Weil sie vernachlässigt oder geschlagen wurden, weil sie leichte Drogen nahmen oder kriminell wurden. „Wir wollen ihnen eine Perspektive, eine Sicherheit bieten“, sagt Zahn.
Eine Bleibe für bis zu 16 Kinder
Erst im Mai 2020, mitten in der Pandemie, ist aus dem Haus Regenbogen – in dem zuvor unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge untergebracht waren – ein Haus der allgemeinen Jungendhilfe geworden. „Als keine Flüchtlinge mehr nachgekommen sind, haben wir umstrukturiert.“ Seither haben sieben Jugendliche im Haus Regenbogen eine Bleibe gefunden.
Auch wenn die Einrichtung im Augenblick fast voll erscheint – es gibt offiziell acht Plätze für Jugendliche im Alter zwischen sechs und 21 Jahren – sollen bald mehr Kinder aufgenommen werden. Denn: Die obere Etage im Haus Regenbogen steht noch leer. „Wir überarbeiten gerade unser Konzept und wollen noch mehr Personal für die Betreuung einstellen“, sagt Zahn. Mit dem neuen Konzept sollen weitere acht – also insgesamt 16 – Plätze geschaffen werden.
Das Haus Regenbogen ist dabei rund um die Uhr, 24-Stunden, sieben Tage die Woche besetzt. Tagsüber mit mindestens einem, meistens mit zwei Sozialpädagogen und mit einer Hauswirtschaftskraft und einem Hausmeister. Auch nachts ist jemand vor Ort. Es gibt ein Mitarbeiterzimmer, genau in der Mitte zwischen den Kinder- und Jugendzimmern. „Sie müssen nur klopfen, wenn wir schlafen, und wir stehen auf. So wie Eltern auch“, sagt sie.
Wenn Yasmina Zahn an die Schicksale ihrer Kinder denkt, dann denkt sie an zwei Jugendliche, die dem Marihuana verfallen waren, an einen leicht behinderten Jungen, der straffällig geworden ist, aber aufgrund seiner Behinderung nicht begreifen kann, warum das, was er tat, eine Straftat ist. Und sie denkt an eine Halbwaise, deren Mutter gestorben ist und deren Vater eine neue Familie gegründet hat. „Die Umstände passten nicht mehr“, sagt Zahn. „Die Jugendliche hat sich in der neuen Familie nicht wohl gefühlt. Und der Vater mit der Situation auch nicht.“
Als Zahn die Geschichten ihrer Schützlinge erzählt, klingt es, als würde sie die Jugendlichen vor allem beschützen wollen. Auch vor der Härte ihrer Worte. Zahn spricht langsam, prüfend, will nicht dramatisieren, aber auch nichts beschönigen. Wie sie den Jugendlichen Halt gibt? Und wie sie es schafft, nicht wütend, nicht fassungslos zu werden, bei allem, was den Kindern zugestoßen ist?
„Ein schwieriges Thema“, sagt sie. „Man kann die Geschichten nicht abstreifen. Kann nicht ganz distanziert sein, weil man sonst keine Beziehung zum Kind aufbaut", sagt sie. Am Ende des Tages will sie die schweren Gedanken trotzdem nicht mit nach Hause nehmen. „Mit der Zeit lernt man, Nähe und Distanz abzuwiegen."
Kinderschutz in Pandemie-Zeiten
Um Bindungen aufzubauen, werden die Jugendlichen deshalb – auch trotz Corona – mal umarmt, es werden unter den Mitarbeitern Masken getragen, aber nicht in der Kommunikation mit den Kindern. „Wir haben Kinder, die sehr viel über die Mimik verarbeiten oder die Nähe brauchen. Gerade jetzt, in dieser für sie neuen Situation.“
Trotzdem ist mit Corona vieles anders. Ausweichzimmer wurden geschaffen, falls ein Corona-Fall eintritt. Bisher ist die Einrichtung davon verschont geblieben. Und im Flur auf der ersten Etage weist ein Schild auf einen „Homeschooling“-Bereich hin. Hier wird gelernt, hier helfen die Betreuer – wie anderswo die Eltern – während der Schulzeit bei den Aufgaben.
„Wir kennen die Stundenpläne und die Lehrer gut“, sagt Zahn. „Und das Homeschooling klappt mittlerweile auch.“ Ein ehemaliger Schulverweigerer habe inzwischen sogar wieder Gefallen am Lernen gefunden. „In Präsenzzeiten geht er jetzt auch wieder zur Schule“, sagt Zahn und lächelt durch ihre Maske hindurch. Die kleinen Erfolge, sie zählen so viel.
Der Streitigkeiten nehmen zu
Yasmina Zahn merkt aber auch, wie sehr die Pandemie an den Jugendlichen zehrt. Wie sehr es sie belastet, in der Einrichtung aufeinander zu hocken, Freunde nicht treffen, nicht in einen Verein gehen zu können. „Ihnen fällt schon die Decke auf den Kopf. Zum Glück ist keiner alleine, es sind immer zwei, drei bei uns miteinander befreundet, sodass sie auch zusammen raus können, weil sie als ein Haushalt gelten.“ Trotzdem, sagt die Sozialpädagogin, hätten die Streitereien zugenommen. Denn nicht immer verstünden die Pubertierenden, warum sie sich so stark einschränken müssten.
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