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Mit dem Fahrrad zurück ins Leben

Yolo - You only live once - ist das beliebte Motto der jungen Generation, was so viel heißt, man soll das Leben genießen, komme was da wolle. Aber was, wenn man körperlich beeinträchtigt ist und gar nicht mehr selbst beeinflussen kann, ständig neues und aufregendes zu erleben? Wenn man stattdessen tagein, tagaus im selben Zimmer sitzt, die gleichen Wände anstarrt und kaum Besuch bekommt? Die Rede ist hier nicht von Gefängnisinsassen, sondern beschreibt die Situation in der sich viele Bewohner von Seniorenheimen befinden. Sie sind nicht selten zu gebrechlich, um selbstständig größere Strecken zurückzulegen, viele ihrer Lebensbegleiter sind bereits verstorben, die Familie hat kaum Zeit und so vergehen die Tage oft monoton, langweilig und manchmal sogar quälend langsam.

„Man sollte das Leben wirklich leben können - und zwar bis zum letzten Tag unabhängig vom Alter und der körperlichen Verfassung", sagt Ole Kassow. Dazu gehören für ihn Blumen riechen, den Sonnenschein im Gesicht spüren und natürlich die Interaktion mit anderen Menschen. Eben all die kleine Dinge, die das Leben erst lebenswert machen.

Raus aus der Senioren-Festung - mit dem Cargobike

In Kopenhagen, Europas fahrradfreundlichster Stadt, ist der normalste Weg am alltäglichen Leben teilzunehmen, das Radeln durch die Stadt. So kam Kassow vor vier Jahren auf die Idee ein altes Cargobike zu mieten, damit ohne Ankündigung bei einem nahegelegenen Seniorenheim vorzufahren und beim Personal nachzufragen, ob vielleicht ein Bewohner Lust auf einen Ausflug hätte. „Kaum stand ich auf dem Hof, war ich aufgeregt und kam mir auch ein bisschen blöd vor", erzählt Kassow. Das Gefühl verflog, als sich schnell eine ältere Dame fand, die sich auf das Abenteuer einließ. Gertrud ließ sich von Kassow zwei Stunden durch Stadt kutschieren. Sie ratschten, und lachten und hatten gemeinsam eine gute Zeit. „Das war ein wunderbares Erlebnis; ich habe durch Gertruds Erinnerungen meine Stadt aus einem völlig neuen Blickwinkel kennengelernt", sagt Kassow. Am nächsten Morgen erhielt er einen Anruf einer Betreuerin aus dem Seniorenheim: „Sind Sie der Mann mit dem Rad? Hier stehen zehn Leute, die wollen auch mit Ihnen fahren." Die Idee von „ Cycling Without Age " war geboren.

Kurz darauf gründete Kassow einen Verein der ehrenamtliche Rad-Piloten ausbildet, bei der Suche nach geeigneten Rädern hilft und die Idee in die Welt trägt. Der 50-Jährige fungiert dabei als Botschafter. Wer den charismatischen, lebensbejahenden Redner eimal von seinem Unterfangen erzählen hört und sich dabei die rührenden Bilder ansieht, die bei zahlreichen Ausflügen entstanden sind, kann sich der simplen und gleichzeitig weitreichenden Idee kaum entziehen. Kein Wunder, dass sich in inzwischen in 27 Ländern weltweit über 400 Untergruppen gebildet haben. Die deutsche Sektion nennt sich „ Radeln ohne Alter ".

Grenzüberschreitende Urlaube und radelnde Polizisten

Mittlerweile haben unter dem Motto „Ein Recht auf Wind in den Haaren" grenzüberschreitende, mehrtägige Radtouren stattgefunden, eine Senioren-Gruppe hat sich im vergangenen Jahr beim Kopenhagen-Pride, dem traditionellen Umzug schwuler und lesbischer Menschen, durch die Gegend fahren lassen und in den USA gibt es eine Polizeistation, deren Beamten regelmäßig für den guten Zweck in die Pedale treten. Offenbar machen die Radausflüge nicht nur Spaß, sondern wirken sich auch positiv auf die Gesundheit aus. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass zum Beispiel Demenzkranke von den Ausflügen profitieren. Sie seien nach der Ausfahrt ausgeglichener und besser gelaunt als zuvor, berichten Pfleger.

Für Ole Kassow ist sein Engagement bei „Cycling without Age" Ausdrucks seines Glaubens an die partizipatorische Gesellschaft. „Es ist falsch, sich einfach zurücklehnen und darauf warten, dass der Staat alles für einen erledigt. Hin und wieder tut es gut, etwas Großzügiges zu tun ohne eine Gegenleistung zu erwarten", sagt Kassow. Die Rikscha-Räder fungieren dabei im Grunde nur als Hilfsmittel für Teilhabe und soziale Interaktion. Das zeigt auch die hübsche Idee des „Ask me about"-Festival. Geradelt wird hier gar nicht. Stattdessen können sich junge Menschen zu den Älteren in eine Rikscha setzen und sich über die kleinen und großen Fragen des Lebens austauschen.

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