So kann man die Arbeiten von Videokünstler Angel Vergara vielleicht am besten zusammenfassen: Kunstgeschichte trifft auf Popgeschichte, der Künstler selbst tritt als Maler-Geist auf und lässt die Grenzen der Originalität verschwimmen.
In seinen Vorlesungen über die Ästhetik setzte sich der Philosoph G.W.F. Hegel in den 1820er Jahren mit den vielfältigen Spielarten der Kunst – Architektur, Musik, Skulptur, Poesie und natürlich Malerei – umfassend auseinander. Und kam zum Schluss, dass der Malerei innerhalb der bildenden Künste eine besondere Rolle zufalle: Ihr vermeintlicher Schwachpunkt gegenüber der räumlichen Kunst, ergo die Reduktion der Fläche auf eine zweidimensionale Leinwand, hob der Philosoph nun gerade als deren besonderes Ausdrucksmerkmal hervor. Die Malerei entferne sich hierdurch nämlich von der bloßen Reproduktion der Außenwelt. Ihr Gehalt sei so „die Subjektivität, und zwar die in sich zugleich partikularisierte Innerlichkeit“, ihr Inhalt „die geistige Innerlichkeit“. Malerei werde so also zu „einem Widerschein des Geistes“. Durch die statische Zweidimensionalität fokussiert die Malerei den Blickwinkel des individuellen Künstlers, der diese jedoch intersubjektiv erfahrbar macht.
Im Rahmen seiner aktuellen Arbeit „Les belles idées reçues“ (The beautiful recieved ideas) veranstaltete der in Madrid geborene und in Belgien lebende Künstler Angel Vergara Gruppen-Workshops in einer Schule für Sehbehinderte sowie einem gemeinnützigen Verein, der auf die Arbeit mit sozial benachteiligten Kindern ausgerichtet ist. Auf dem speziell für das Projekt kreierten Internetauftritt kann man sich auf zahlreichen Bildern und Videoaufnahmen vom Schaffensdrang der teilnehmenden Kinder überzeugen, die ihrem Ausdruck freien Lauf ließen und dabei unzählige Bilder kreierten. Diese dienten Vergara wiederum als Inspirationsquell für die weitere Arbeit. In einer Serie von „painting perfomances“ schuf der Künstler im Folgenden im öffentlichen, städtischen Raum selbst unzählige Bilder. Hierbei trat er als sein Alter-Ego „Straatman“ auf, komplett eingehüllt in ein weißes Leinentuch – eine gespenstisch anmutende Figur, mittels ihres Ganzkörperkostüms in gewisser Weise wieder vom öffentlichen Raum separiert, auf die Angel Vergara seit den späten 1980er Jahren immer wieder in öffentlichen Aktionen zurückgegriffen hat. Auszüge aus dem Material, das zum Teil später noch in seinem Atelier weiterbearbeitet wurde, sind nun in der Videopräsentation „Les belles idées reçues“ zu sehen. Wie durch Geisterhand fließen die einzelnen Bilder ineinander über. Farben, Licht und Schatten, im hegelianischen Sinne die malerischen Charakteristika jener individuellen Subjektivität, die die „geistige Innerlichkeit“ als Verarbeitung der objektiven Realität darstellt, vereinigen sich in ein fluides Gesamtbild.
Die Malerei nimmt grundsätzlich in der multimedialen Kunst Angel Vergaras eine prominente Rolle ein. In der Videoarbeit “Feuilleton, the seven deadly sins”, die 2011 im belgischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen war, wurden so beispielsweise auf sieben Leinwänden sich stetig im Loop wiederholende Aufnahmen projiziert, die sich in ihrer Zusammensetzung lose an dem Leitmotiv der sieben Todsünden orientieren: Found Footage-Material, Nachrichtenschnipsel, Fotos, Werbeclips, Zeitungsartikel und sonstige Archivaufnahmen. Es folgt die künstlerische Intervention: Vergara bemalt die Filmleinwände (mittels davor angebrachter Glasscheiben) im wahrsten Sinne des Wortes in einem “live painting”. Behutsam gleitet eine Hand über diese bewegten Bilder, fokussiert bestimmte Ausschnitte der Aufnahmen und scheint diese für einen kurzen Augenblick mit dem Pinsel festzuhalten, während sich diese zwischenzeitlich schon wieder verändert haben. Die hierbei entstandenen Bilder auf Glas wurden ebenfalls im Pavillon präsentiert. Einer ähnlichen Technik bediente sich Angel Vergara auch in “and yes I said yes I will Yes." (2012). Hier sind es größtenteils Bewegtbilder großer Filmstars – von DiCaprio über Alain Delon und Robert Mitchum bis zu John Cassavetes – sowie dokumentarische Aufnahmen, während der Titel sowie immer wieder eingeblendete Texttafeln auf James Joyces Jahrhundertroman “Ulysses” rekurrieren. Auch in dieser Arbeit scheint der Pinsel in einem zunächst verzweifelt anmutenden Versuch bestimmte Sequenzen festhalten zu wollen, derweil die Filmbilder schon wieder längst davongestürmt sind und sich kaum noch vom Künstler einholen lassen. Viel eher wird hier aber der individuelle Ausdruck, die Wahrnehmung des Malenden selbst in den Vordergrund gestellt, ähnlich vielleicht, wie dies James Joyce als einer der Ersten so radikal in seinem Roman tat: das subjektive Empfinden für den Anderen erfahrbar machen.
Als weiteren Film hat sich Angel Vergara “Le Livre d'image” der französischen Regielegende Jean-Luc Godard ausgesucht, der 2018 in Cannes uraufgeführt wurde. Ähnlich wie etliche Filme seiner späten Phase, ließe sich das Werk vermutlich am besten als eine Art Film-Essay, oder eher noch ein Film-Buch, beschreiben. “Le Livre d'image” eröffnet mit dem Filmemacher am Schneidetisch: “Wirklich als Mensch leben heißt, mit den Händen denken”. Was folgt ist eine assoziative Collage, ein Bild- und Filmausschnittsreigen bestehend auf Hollywood-Filmen, Nachrichtenausschnitten, YouTube-Gräuelvideos des IS und selbstgedrehten Aufnahmen, den Godard in allen nur möglichen Variationen miteinander verbindet, während aus dem Off er selbst spricht, teils bewusst verfremdet und kaum verständlich. In fünf Kapiteln arbeitet er sich an der Geschichte des bewegten Bildes des 20. Jahrhunderts ab, in Bezugnahme auf eine Bildergeschichte des Grauens des historischen Jahrhunderts, und geht im letzten Teil des Films näher auf westliche Vorstellungen der arabischen Welt ein. Eine wahrhaft “halluzinogene Collage” (Die Zeit), die in ihrer Ambivalenz keine einfachen politischen Antworten liefert und den Zuschauer zwingt, das filmische Bilderbuch selbst zu entschlüsseln. Zum Schluss zitiert Godard den Dramatiker Berthold Brecht mit den Worten, in Wirklichkeit trage nur das Fragment den Stempel von Authentizität in sich. Vielleicht sind es dann auch jene Fragmente, denen die malende Hand von Angel Vergara in seinen Arbeiten stetig auf der Spur ist.
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