Daniel Urban

Wort & Ton, Frankfurt am Main

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Artikel

Edvard Munch, der Home Movie-Filmer

Die Ausstellung „Edvard Munch – der moderne Blick“ zeigt den berühmten Maler beim Experimentieren mit dem damals neuen Medium Film. Knapp fünfeinhalb Minuten belichteter Zelluloidfilm lassen uns die Welt durch das filmische Auge Munchs erblicken.

Regel­mä­ßig besuchte Edvard Munch Film­vor­stel­lun­gen, sah sich Wochen­schauen, euro­päi­sche oder ameri­ka­ni­sche Spiel­filme an. In seiner Begeis­te­rung streute er 1911 sogar das Gerücht, selbst ein Kino eröff­nen zu wollen. Im Kino immer mit dabei war sein Hund Muff – wenn dieser bellte, deutete Munch dies als Zeichen der Lange­weile und verließ das Kino.j
Half­dan Nobel Roede, Kompo­nist und Kunst­samm­ler, hatte gerade in Kris­tiana, dem heuti­gen Oslo, sein Kino „Kosm­o­rama“ eröff­net. Roede und Munch lern­ten sich im Spät­som­mer 1910 persön­lich kennen. Zuvor war Roede dem Maler ledig­lich als „wunder­ba­rer Ritter der Kunst“, der seine Werke sammelte und förderte, bekannt. An die Wände seines Licht­spiel­hau­ses hängte Roede Grafi­ken von Munch und stellte so zumin­dest eine räum­li­che Verbin­dung zwischen dem neuen Medium und der Male­rei her, was nicht ohne Kontro­ver­sen blieb. Das bewegte Bild wieder­rum scheint auch in Munchs Male­rei Eingang gefun­den zu haben (siehe „Außen­welt“). Roede stürzte sich kurz darauf selbst ins Film­ge­schäft, produ­zierte und führte Regie und eröff­nete später weitere Licht­spiel­häu­ser, in denen immer auch Kunst ausge­stellt wurde. Einige Zeit verfolg­ten Roede und Munch gar die Idee eines Licht­spiel­hau­ses mit ange­glie­der­tem Kunst­mu­seum, die jedoch später wieder verwor­fen wurde. Gut 15 Jahre später sollte Munch selbst zur Kamera grei­fen.

Die Kamera als verlän­ger­tes Auge

Als die Firma Pathé 1921 die Film-Kamera Pathé-Baby auf den Markt brachte, erlebte der Amateur­film einen regel­rech­ten Boom. Die preis­werte Kamera fand beacht­li­che Verbrei­tung in Frank­reich, England und Deutsch­land. Auch Edvard Munch erwarb 1927 in Paris eine Pathé-Baby-Kamera der zwei­ten Baureihe und drehte die vier in der SCHIRN-Ausstel­lung gezeig­ten 9,5 mm Filme.

Das belich­tete Film­ma­te­rial zeigt größ­ten­teils Außen­auf­nah­men – Stadt­an­sich­ten, Passan­ten, Autos, Stra­ßen­bah­nen und Land­schaf­ten – und einige Aufnah­men von Verwand­ten und dem Maler selbst. Während Munch sich bei der Wahl der Bild­aus­schnitte schein­bar noch an die der Kamera beilie­gen­den Anlei­tung hält, die sich ihrer­seits an klas­si­schen Moti­ven der Film­pio­niere Lumière orien­tiert, werden den Hinwei­sen zu Belich­tungs­zeit, Beleuch­tung und Kame­ra­füh­rung weni­ger Beach­tung geschenkt: Die Aufnah­men sind zum Teil stark verwa­ckelt, über- oder unter­be­lich­tet und machen insge­samt einen expe­ri­men­tel­len Eindruck. Über die Empfeh­lung zur Nutzung des Stativs setzt sich Munch beinah ausnahms­los konse­quent hinweg. Munch scheint Spaß am Expe­ri­men­tie­ren mit der Kamera zu haben und geht unge­zwun­gen mit der neuen Tech­nik um.

Das bewegte Objekt? Zweitrangig!

Gut 30 Jahre zuvor hatten die Brüder Auguste und Louis Lumière Stadt­sze­nen abge­filmt und einem begeis­ter­tem Publi­kum vorge­führt. Während die Lumières jedoch aus einer stati­schen Posi­tion heraus zum Beispiel Arbei­ter beim Verlas­sen einer Fabrik film­ten und somit den Doku­men­tar­film begrün­den, sind Munchs Aufnah­men unru­hi­ger, subjek­ti­ver und in gewis­sem Maße dyna­mi­scher. Immer wieder werden bestimmte Motive kurz fokus­siert und dann mit einem Reiß­schwenk, einer schnel­len hori­zon­ta­len Bewe­gung der Kamera, been­det. Die Kamera gleicht einem verlän­ger­ten Auge, welches unru­hig sich Über­sicht zu verschaf­fen sucht, bestimmte Dinge genauer in Anschein nimmt und sich dann wieder auf die Suche nach neuen Eindrü­cken macht. So huscht Munchs filmi­sches Auge über Plätze, Menschen und Autos, betrach­tet eine Menü­ta­fel und beglei­tet aus einer erhöh­ten Posi­tion eine Spazier­gän­ge­rin einige Schritte.

Die Aufnah­men haben eine Dyna­mik, die die weitest­ge­hend urbane Welt um sie herum wider­spie­gelt. Kasi­mir Male­witsch schrieb in „Die Gesetze der Male­rei im Film“ davon, dass die Funk­tion des Films weni­ger darin bestehe, bewegte Objekte abzu­bil­den, sondern dass dem Film an sich eine dyna­mi­sche Kraft inne­wohnt. Genau jene dyna­mi­sche Kraft meint man bei Munchs Aufnah­men von Zeit zu Zeit aufblit­zen zu sehen.



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