Kurz nach Mitternacht liege ich wach. Ich kann eh nie schlafen, wo ich wohne, weil ich da wohne, wo alle feiern gehen. Es ist wie bei How I Met Your Mother, die Bar direkt unter der Wohnung, nur noch ein bisschen verrückter: Ich wohne im Erdgeschoss am Hamburger Berg. Der Berg ist eine legendäre Kneipenstraße auf , laut und durcheinander. Ein Fiebertraum aus Müll, Drogen, touristischen Feierwütigen, Schlägereien, Männern, die zwischen parkende Autos pinkeln - und ich mittendrin. Zwei dünne Fenster trennen mich von den Hellwachen.
Draußen ist Blaulicht, drinnen erinnere ich mich. "Wir haben Ohrstöpsel", das war vor drei Monaten die erste Warnung meiner neuen Mitbewohner. Der Berg war Neuland für mich. Erste Erkenntnis: Hier ist gar kein Berg. Stattdessen eine schmale Straße, die morgens ein bisschen nach Urin und Erbrochenem riecht. Ungewohnt, wenn man aus München kommt, wo Gott persönlich jeden Morgen mit seiner Zunge den Bordstein sauber leckt. Ich fühlte mich überfordert. Wahnsinnig überfordert. Und müde. Denn, das ist die zweite Erkenntnis: Ein Ort, der nie schläft, ist nicht nur New York, sondern auch der Hamburger Berg.
1.09 Uhr. Ich setze mich ans Fensterbrett, wie so oft, mein Lieblingsplatz und sehe auf das Menschengetümmel. Mir gegenüber liegt das Roschinsky's, unter mir dröhnt die Kellerkneipe namens Nachtigall, von dort Rihanna: " Umbrella, ella, ella, eh, eh, eh." Ich öffne eine App auf meinem Handy, mit der man die Umgebungslautstärke messen kann. Während ich durchs offene Fenster hinausrauche in den kühlen Herbstwind, der sich mischt mit dem Geruch von Axe, Astra und Achselfrische nach vier Stunden Club, misst die App 70,9 Dezibel und bewertet diese Lautstärke mit "ruhige Straße" und "normales Gespräch". Doch der Boden unter mir vibriert.
Schlafen kann ich nicht, also Haustür auf und drei Stufen runter. Ich rausche hinaus ins Gewusel des Bergs. Vor der Nachtigall sitzt Ben, 19 Jahre alt, auf einem hölzernen Barhocker. Er arbeitet seit sechs Monaten jeden Samstag hier als Türsteher, über ihm summt ein Heizstrahler. "Würdest du gern hier wohnen?", frage ich. "Auf gar keinen Fall, Bruder", sagt er und schlägt wie ein Boxer kurz ins Nichts vor sich: "Ich wohne in Ahrensfeld, ich brauche Ruhe von diesem Job."
Rüber zum Roschinsky's. Dort wartet Edgar, 61, Cola auf dem Tisch und Lolli im Mund. "Hab dich schon am Fenster sitzen sehen", sagt er grinsend. Was er auch schon in seinen 25 Jahren als Türsteher gesehen hat: Messerstechereien, Schlägereien, Belästigungen. "Hier wohnen? Nee." Aber: "Man lernt hier viele Leute kennen, es ist wie Familie." Er wohnt ja schon jedes Wochenende hier, denke ich.
Zum Original