Daniel Hinz

Freier Journalist & Reporter, Berlin

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Sie werden von Fremden terrorisiert

Identitätsdiebstahl im Netz – Betroffene sind oft hilflos.

Marina* hat schon Dutzende Nachrichten verschickt. Auf Immoscout, WG-Gesucht, eBay Kleinanzeigen, Immowelt, dem Münchner studierendenwerk. Ohne Erfolg. Es ist November 2020, Marina sucht ein Zimmer für ein Praktikum in München. Und sie ist zunehmend verzweifelt. Dann stößt sie auf eines, bei dem vieles passt: Es kostet 500 Euro warm, das ist für München ein guter Preis, aber er ist auch nicht ungewöhnlich niedrig.


Sie kontaktiert die Frau, die die Anzeige aufgegeben hat, eine Flugbegleiterin mit italienischem Namen. Die bittet Marina um eine Kopie ihres Reisepasses, dann würde sie den Vertrag erhalten. Außerdem soll sie binnen 24 Stunden die Kaution auf ein belgisches Konto überweisen. Marina weiß natürlich, dass ihr Reisepass sensible Daten enthält. Dann schickt sie doch ein Foto, die Not ist zu groß. Erst später wird sie merken, dass sie Opfer eines Betruges geworden ist: Ihre Verzweiflung kostet sie ihre Identität.


Ein Betrug, dem in Deutschland immer mehr Menschen zum Opfer fallen. Die Fallzahlen der von Identitätsmissbrauch Betroffenen wie Marina steigen rasant an, im vergangenen Jahr um 38,6 Prozent: Insgesamt waren es laut Bundeskriminalamt (BKA) rund 15.000. 15.000 Menschen, unter deren Namen Ware online bestellt oder Betrug begangen wird.

Während die Kriminalitätsrate insgesamt seit Jahren sinkt, steigen laut BKA die Cybercrimes kontinuierlich. Inzwischen ist Cybercrime ein Milliardengeschäft für Kriminelle und Identitätsdiebstahl ein Teil davon. Darunter fallen der Verkauf von Waren, Vertragsabschlüsse, Bestellungen, Abos, das Aufsetzen von gefakten Onlineprofilen - alles unter dem geklauten Namen. 


"Das Problem Identitätsmissbrauch existiert zwar schon länger. Durch die Digitalisierung stehen Tätern mehr Daten zum Missbrauch zur Verfügung", sagt Ayten Öksüz, Expertin für Datenschutz und Datensicherheit in der digitalen Welt der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Noch nie war Betrug so einfach."


Marina wird erst skeptisch, als die angeblich junge Frau nicht auf Anrufe reagiert und sie das Zimmer nicht besichtigen darf. Dabei hat sie den entscheidenden Fehler schon begangen, als sie den Betrügern ihren Reisepass zuschickte.


Hat ein Täter eine Kopie des Personalausweises oder Reisepasses, kann er potenziellen Opfern vorgaukeln, er hätte seriöse Absichten, und sie damit betrügen. Besonders kritisch ist das auch, weil ein Ausweis sensible, teilweise nicht änderbare Daten enthält und für Authentifizierungszwecke genutzt werden kann. Damit lassen sich Bankkonten eröffnen, gefälschte Schecks auf die Kontonummer des Inhabers erstellen oder andere offizielle Dokumente wie ein Führerschein ausstellen.


Oft reichen aber schon wenige Daten, um einen Identitätsdiebstahl zu begehen. Mit dem Namen, der Adresse und dem Geburtsdatum kann bereits ein Fake-Onlineshop eröffnet oder eine gefälschte Rechnung ausgestellt werden.


Ein Mann meldet sich, er habe ihr bereits eine Kaution überwiesen

Es ist ein Abend im April 2021. Inzwischen hat Marina den Austausch mit der italienischen Flugbegleiterin und das Verschicken ihres Passes längst wieder vergessen. Marina liegt schon im Bett, will schlafen, am nächsten Morgen muss sie früh raus. Ihr Handy leuchtet auf, sie hat eine neue Mail bekommen, der Betreff lautet: WG Angebot für Studenten. Die Nachricht stammt von einem jungen Mann aus Berlin. Sie soll ihm ein Zimmer vermietet haben - er habe bereits die Kaution, 1.400 Euro, überwiesen.

Marina bekommt Angst. Sie vermietet kein Zimmer, sie kennt den Mann nicht. Als sie beginnt zu verstehen, was passiert ist, wächst ihre Verzweiflung. Sie begreift: Jemand benutzt ihren Namen, ihre Identität. Jemand benutzt sie.


Am nächsten Tag geht Marina sofort zur , wie sie erzählt, und stellt Anzeige gegen Unbekannt. Aber die wird fallen gelassen. Im Juni erhält sie einen Brief von den Behörden, dass kein Täter ermittelt werden konnte. Als sie im August immer noch Mails und Facebook-Nachrichten erhält, von anderen Menschen, denen Marina ein Zimmer in Aussicht gestellt haben soll, kann sie kaum noch schlafen. Ständig googelt sie ihren eigenen Namen, denkt, dass sie verrückt wird.


Im selben Monat ruft die spanische Polizei aus Malaga an: Ihnen wurde ein Betrugsfall unter Marinas Identität im österreichischen Salzburg übergeben. Da ist ihr klar, dass die Täter mit ihrem Namen nicht nur in Deutschland betrügen, sondern europaweit. Die Polizisten sollen geantwortet haben, dass sie nichts tun könnten, solange kein Menschenleben auf dem Spiel steht. Marina versteht das nicht. Ihre Identität ist ihr Leben.

Marina ist in Spanien aufgewachsen, hat in Deutschland studiert, spricht eigentlich fließend Deutsch. Aber wenn sie davon erzählt, was ihr passiert ist, fehlen ihr manchmal die Worte, dann wechselt sie ins Englische.

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