Daniel Hinz

Freier Journalist & Reporter, Berlin

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Artikel

"Die Kälte ist kein Feind"

Die Kälte ist kein Feind: Das begriff ich das erste Mal mit 17. Damals, 1977, lebte ich in einem besetzten Haus in Amsterdam. Ich meditierte auch winters nackt im Innenhof, machte Yoga, nahm ab und zu psychedelische Drogen, es war die beste Zeit meines Lebens. Eines Morgens wanderte ich durch den Park nebenan, dachte über das Leben nach, als ich Eis auf dem Wasser eines Teiches sah. Ich folgte meinem Bauchgefühl, zog mich splitternackt aus und ging hinein. Ich war selbst überrascht! Alle hatten mir immer gesagt: Schütz dich vor Kälte, sie ist nicht gut. Doch ich liebte es. Ich empfand diese Kälte als eine Öffnung, eine Antwort aus der Tiefe an meinen Körper. Seitdem experimentiere ich jeden Tag, kein Tag ist für mich ohne Kälte vergangen.


Ich bin Kälte-Missionar. Anfangs dachten die Leute, ich sei verrückt, nun interessiert sich sogar die Wissenschaft für meine Atmungs-Kälte-Mindset-Methode. 2,7 Millionen Menschen folgen mir auf Instagram, Tausende besuchen meine Workshops. Die Kälte bringt uns zurück zur Natur. Mit meiner Atemtechnik holt man erst 30- bis 40-mal tief Luft, dabei verlässt Kohlendioxid den Körper, die Muskeln entspannen sich, die Gehirnaktivität steigt. Wenn dann alles kribbelt, atmet man noch einmal ein und hält danach die Luft an. Man fokussiert sich, blendet alles andere aus und lässt eine Wärme im Körper entstehen.


In Deutschland hat die Regierung dazu aufgerufen, kürzer zu duschen. Ich sage: Duscht einfach kalt. Die Kälte ist etwas Gutes, das muss man zuerst begreifen. Dann üben. Beginnend mit 15 Sekunden. Steigern auf 30, schließlich 45 Sekunden. Eine Minute, zwei Minuten. Wenn man es schafft, zwei Minuten kalt zu duschen - was man als gesunder Mensch innerhalb von zehn Tagen hinbekommen sollte -, könnte man dazu übergehen, jeden Tag ein Eisbad zu nehmen. Danach fühlt man sich gestärkt. Unsere Blutgefäße werden durch Kältereize trainiert, was durch das Tragen von mollig warmer Kleidung nicht mehr geschieht.


Heute halte ich 26 internationale Rekorde im Ertragen extremer Kälte, deshalb nennt man mich auch "Eismann". Ich war fast zwei Stunden lang in einem Eisbecken, tauchte 60 Meter unter einer Eisdecke. Ich bin ein Mensch der Extreme. Bei meiner Geburt wäre ich fast gestorben, mein Zwillingsbruder kam vor mir, ich wurde übersehen - und erst in allerletzter Sekunde im kalten Gang des Krankenhauses geboren. Von da an war die Kälte ein Tattoo auf meiner Seele.


Wenn wir in die Kälte gehen, wenn wir sie überwinden und stärker sind als sie, erreichen wir tiefe Gelassenheit. Probieren Sie es mal aus. So heiß, wie es gerade draußen ist: Einen besseren Zeitpunkt werden Sie kaum finden.


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