Weihnachten ist für die Zusteller wie Olympia
Am Ende dieses Tages wird Zlatko Hlota 121 Stopps gemacht, 2309 Kalorien verbrannt haben, zwölf Kilometer Rad gefahren und über 19.000 Schritte gelaufen sein. Die Anstrengung, oft vergebens. Nur noch eine Woche bis Weihnachten. Er springt vom Rad, sprintet zur Haustür. Mit dem linken Daumen drückt er gegen die Klingel. Wenn Zlatko Hlota kommt, kündigt er sich so an. Die meisten wissen nicht, wie oder wann er kommt. Manche warten auf ihn. Bzzzzz. Mit seiner Schulter drückt er die Tür auf. Zweiter Stock, kein Aufzug, genau 40 Treppenstufen rauf. Wohnungstür auf. „Hallo, UPS hier, ihr Paket, schöne Weihnachten.“ Danke, tschüss, ebenso. 40 Stufen runter. „Ich habe aufgehört, mich zu fragen, was drin ist.“ Einmal habe ein Kunde mit einem kleinen Päckchen in der Luft gewedelt und gesagt, der Inhalt sei zwei Riesen wert. „Ich will das gar nicht wissen.“ Er will ausliefern. Zurück aufs Lastenrad. Eine Woche bis Weihnachten.
Hlota hat seinen Job jetzt seit drei Jahren. Dass er neuerdings radelt, hat einen Grund: Weil die Gesellschaft Nachhaltigkeit fordert, setzen die großen Paketdienste ihre Zusteller aufs Fahrrad. In vielen Städten gibt es Projekte. Hamburg, München, Berlin. Das Prinzip ist schnell erklärt. Last Mile Delivery, die „letzte Meile“ einer Sendung, belastet die Umwelt und ist teuer. Diesel- und Benzin-Lieferwagen fahren durch die Innenstadt, blasen Treibhausgase und Feinstaub in die Luft. Einige setzen deshalb auf Elektroantrieb, die Deutsche Post etwa. Klassische Briefträger sind ohnehin oft mit dem Rad unterwegs. Drohende Fahrverbote in der Innenstadt spornen zum Umdenken an. In München läuft seit 2017 ein Pilotprojekt: UPS setzt die Zulieferer auf das Rad und deckt so zwei Drittel der Umweltzone in der bayerischen Landeshauptstadt ab. Keine Abgase, keine Probleme? Natürlich ist kein System fehlerfrei. Und die Zusteller sind die Ersten, die das mitbekommen. Wird einer der härtesten Jobs jetzt noch härter?
Weihnachten ist für die Zusteller wie Olympia
Hlota stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Vojvodina, heute ein Teil Serbiens. Er ist 40 Jahre alt, glatt rasiert, kaum Augenringe. Sein Geheimnis: kalte Duschen und die Gene. Von Papa Kopf, von Mama Herz. „Jugo“ fließe durch sein Blut. Vom Krieg, habe er nicht viel mitbekommen. Andere Erinnerungen: schöner. „Der Lärm, die Leute, der Geruch der U-Bahn, nicht unangenehm, wenn ich einsteige, kommt das sofort zurück.“ 2007, Kulturschock. Vom 30.000-Einwohner-Ort in die Millionenstadt München. Da war er schon erwachsen, verheiratet. Seine Leidenschaft ist es, Handys zu reparieren. „Ich glaube, es ist falsch, sein Hobby zum Beruf zu machen“, sagt er dann. Hat er auch nicht. Radfahren ist sein Beruf, Nachhaltigkeit sei ihm wichtig. „Wenn ich mit dem Radfahren etwas für die Umwelt machen kann, natürlich.“ Regen, Schnee, Hagel – bei jedem Wetter steigt er auf sein Rad und radelt los. So wie heute.
Pakete ausliefern an Weihnachten ist wie Zusteller-Olympia. Dafür hat er trainiert. Alles geben, im Tunnel sein, die letzten Kräfte abrufen. Nach einem langen Coronajahr. Die Menschen, sie bleiben daheim, drücken „Bestellen“ und setzen eine Maschinerie in Gang. Bevor sie ihr Paket in den Händen halten, bekommen sie nur die Uniform, ein Klingeln in den Ohren, ein „Hallo“ mit. Hlota und seine Kollegen bleiben bei vielen nicht lange im Gedächtnis. Der Onlinehandel boomt, die Branche sucht verzweifelt nach neuen Zustellern.
Zehn Tage bis Weihnachten. Dienstag, 10 Uhr. Hlota trägt eine braune UPS-Mütze, Funktionskleidung, Schal, die Jacke bis oben zugezogen. Er mag kein Braun, trägt lieber schwarz. Gegenüber von Circus Krone, Mittlerer Ring, ständiges Autorauschen. Abgase. Hlota entlädt fünf Pakete auf einmal, am Straßenrand steht ein brauner rechteckiger Anhänger, so groß wie ein kleiner Wohnwagen. Das Zwischenlager quasi, hier lagern die Pakete für mehrere Zustelltouren. Eine Treppenstufe hinunter, Arme fest umschlungen, lässt er sie in einen silbernen Fahrradanhänger plumpsen. Zwei Pakete fallen über die Kante auf den Boden, dort liegen sie, wie nasse Säcke kleben sie am Asphalt. „A… Ma… Ny“. Konzentriert sortiert Hlota vorne, hinten, je nach Adresse und Hausnummer die Pakete auf seine Anhänger. Er und ein Kollege blicken auf das „Diad“, das aussieht wie ein altes, überdimensioniertes Blackberry, wo die Kunden in Nicht-Corona-Zeiten ihre Unterschrift geben.
Es gibt Probleme.
„Du kannst abmelden und dann neu anmelden.“
„Okay“, sagt der andere.
Jeden Tag 2200 Stopps, bis zu 3000 Pakete, nur in München. Hlota pflückt die zwei Pakete vom Boden auf, klemmt sie zwischen die anderen und schließt den Deckel. Zehn Tage noch. Jetzt ist die heiße Phase. Das heißt Expresslieferungen. Bis 12 Uhr muss geliefert werden. Dann fährt er los. Die letzte Woche vor Weihnachten. Manchmal wird Hlota auf der Straße angesprochen. Auf sein Lastenrad. Vorne eine schwere dunkle Box, hinten eine kleinere, silberne. Die Leute sagen: Cooles E-Bike. Er, auf dem Sattel sitzend, fährt dann mit seinem Zeigefinger von seiner Brust runter über seinen Körper, tippt dann mit dem Zeigefinger auf seinen Oberschenkel. „Das ist der Elektromotor. Zwei PS.“ Er fährt nämlich ein Fahrrad ohne Elektromotor, einige seiner Kollegen nutzen aber E-Bikes.
Die Leute, sagt Hlota, finden es gut, dass ihr Paket per Rad kommt. Freitagmittag. Sieben Tage bis Weihnachten. Hlota steigt auf seinen Esel, so nennt er sein Rad. Ein Esel von insgesamt 32 in München. Sie zusammen ersetzen 20 große Zustellfahrzeuge. 50 Kilogramm ersetzen 7,5 Tonnen. Jetzt in der Weihnachtszeit unterstützt ein Diesel-Lieferwagen die Fahrräder. Mit einem geübten Schwenker dreht Hlota das fast fünf Meter lange Ungetüm. Bis zur ersten Haltestelle sind es drei Minuten. Hallo, UPS. Bzzzzz. Hier, schöne Weihnachten.
UPS liefert in 30 Städten mit dem Rad aus Weihnachtsstimmung? Kommt nicht wirklich auf. Nicht im Radio, nicht bei Hlota, nicht bei den Kunden. Alles scheiße. Corona. Wobei, findet Hlota, die Leute wirken etwas gelassener. An den vielen Paketen merkt es Hlota auf jeden Fall. Wie jedes Jahr, doppelt so viele wie im August. In ganz Deutschland fährt UPS nun Pakete nachhaltiger aus. Angefangen hat der Paketdienst damit 2012 in Hamburg, inzwischen sind es 30 Städte deutschlandweit. In München sparte man dadurch allein 2019 108 Tonnen CO2 ein, so viel, wie 50 Autos ausstoßen.
Hlota findet, die Erde sei ein Geschenk, wenn man mit Radfahren, mit dem richtigen Verhalten die Erde ändern kann, dann mache er das gerne. Was der Job körperlich mit einem macht? Privat fährt Hlota kein Fahrrad mehr. Viel S-Bahn und zu Fuß. Die wichtigsten Erledigungen übernimmt noch das Auto. Und nur weil die junge Generation einen Lebensstil verlange, lebe er nicht nachhaltig, wie er sagt. Sondern aus Überzeugung. Die Arbeit nimmt ihm die Freude am privaten Radfahren. Er sagt: „Das Leben ist kein Zuckerschlecken.“ Er weiß: Diesen Job wird er keine 20 Jahre lang machen.
Hlotas erster Job in Deutschland war in einem Reprografiebüro. Da ging’s schon los mit den Paketen. Pläne zuschneiden, Visitenkarten sortieren. Er durfte Kunden, die fußläufig ihr Büro hatten, das Paket vorbeibringen. In Serbien arbeitete er mal hier, mal dort, bei seinem Vater ging’s los, mit 16 Jahren. „Papa hat immer allen geholfen, nicht wegen des Geldes.“ Hlota hat keine anerkannte Ausbildung, keine Chance auf die klassische Karriereleiter. Nach einem Jahr Reprografie arbeitete er als Hausmeister, viel Büroarbeit. Im Nebenjob kümmerte er sich um die Gebäudesicherheit bei einem Elektronik-Unternehmen, bis er vor drei Jahren Neues suchte, „wegen der Familie“.
Andere Straßenseite, Oberlandesgericht München. „Hier kennen die mich, ich muss nicht mal durch die Kontrolle.“ Das Paket legt er in den Scanner, geht kurz durch die Schleuse, nimmt das Paket wieder heraus. Eine Frau mit Waffe im Holster begleitet ihn ums Eck. „Irgendwann vertrauen dir die Menschen, das ist schön, das macht den Beruf schön.“ Er bereue die Entscheidung für den Lieferjob überhaupt nicht, sagt Hlota. Es gibt natürlich auch die nicht so schönen Seiten des Berufs. Wenn es regnet, schneit, hagelt. Hlota redet dann von „Herausforderungen“ und meint damit die Unannehmlichkeiten des Berufs. Klar, freie Zeiteinteilung, an der frischen Luft sein – das Zwischenmenschliche sei ihm sehr wichtig. Aber wenn es regnet, alles nass wird oder die Kälte durch die Klamotten dringt. Die Bezahlung sei gar nicht so schlecht, 18 Euro die Stunde. Aber nur fürs Geld macht er es nicht, betont er. Am Ende des Monats sei eh nichts übrig. Manchmal müssten sie sich auch sputen, wenn der Chef das fordert. Hlota sagt: „Der Mensch ist dafür gemacht, zu arbeiten.“
Ein Wohnkomplex. Mit dem Lieferwagen würde er sich in die zweite Reihe stellen, 20 Pakete auf die Sackkarre stapeln und los. Mit dem Rad fährt Hlota in den Innenhof, der so groß ist wie ein Fußballfeld, parkt das Rad neben der Haustür. Pluspunkt Rad. Beim Lastenrad-Projekt, das im vergangenen Jahr nach der Pilotphase verlängert wurde, seien viele in Teilzeit angestellt. Die Fahrräder sind wie ein Start-up im Riesenkonzern Natürlich arbeite man auch mal mehr, gerade in der Weihnachtszeit, Überstunden würden bezahlt. Weil das Projekt eben noch ein Projekt ist, erinnert vieles an ein Start-up. Der Chef des Projekts müsse viel kämpfen, zum Beispiel dafür, dass die Zusteller nicht die dünne, für Truck-Fahrer gemachte Standardkleidung bekommen. Es ist alles noch ein Projekt, das merkt man. UPS, die Firma, ist Bürokratie, das hört man von vielen Stellen. Ein europäisches Start-up im etablierten US-amerikanischen Unternehmen.
Die Stadt München wünsche sich für die Zukunft, dass die Menschen ihre Pakete selbst abholen. Keine Haustür-Lieferung. Fürs Mikrodepot am Straßenrand zieht Hlotas Chef jeden Tag ein Ticket aus dem Parkautomaten. Bzzzz. Bei der nächsten Lieferung, Büro im dritten Stock, winkt ihn die Sekretärin herein, Hlota schnappt sich zwei Pakete, die zurückgehen. Sie gibt ihm ein kleines Geschenk. „Vom Chef.“ Ein kleiner Umschlag. Später, wenn er ihn öffnet, werden dort 25 Euro drin liegen, bald ist Weihnachten. Draußen trifft er einen Kollegen von DHL, tiefe Augenringe, auf seiner Sackkarre stapeln sich 20 Pakete. Er, in leichter Rückenlage, begrüßt „Zlatko“ mit Faustschlag. Sie kennen sich. „Muss heute noch 270 Pakete ausliefern.“ Hlota fällt die Kinnlade leicht herunter. Es ist 14.30 Uhr. „Das packst du“, spricht Hlota ihm Mut zu. Und er hat ja ein Auto, der DHL-Lieferant. „Wir sind eine Community. Wenn ich sowieso bei derselben Adresse ausliefere, noch Luft habe, und dem Kollegen ein Paket abnehmen kann, dann mache ich das auch mal. Wir sitzen im selben Boot.“ Er springt zurück aufs Rad.
Nicht immer sind die Menschen nett, manche sagen kein Wort und knallen die Tür zu. „Es ist auch am Ende des Tages anstrengend für mich, immer nett zu sein, zu lächeln. Aber ich glaube daran, dass man zurückbekommt, was man gibt.“ Langsam geht die Sonne unter. 16.30 Uhr. Hlota kehrt zurück, die abgeholten Pakete schließt er in den Anhänger, hinten, mit System geordnet. Er sagt, er liebe den Job. Er sagt aber auch, er würde jeden Job machen. Das Leben sei da, um alles so schnell wie möglich auszuprobieren, bevor man stirbt.