Titanaluminid ist ein zukunftsweisender Werkstoff. Aus ihm hergestellte Schaufeln sind nur halb so schwer wie jene aus Nickellegierungen. Sie haben eine geringere Dichte, einen hohen Schmelzpunkt und eine gute Korrosionseigenschaft. Das maßgeschneiderte Material macht Triebwerke leiser, sparsamer und umweltfreundlicher. Schon im kommenden Jahr wird es sich im Einsatz beweisen: im Airbus A320neo. Und das ist nur der Anfang, denn Spezialisten bescheinigen dem Werkstoff eine hochfliegende Zukunft.
Die Anforderungen an die Flugzeuge der nächsten
Generation sind enorm: Die Maschinen sollen leiser, spritsparender und
umweltschonender werden. Die Triebwerke spielen dabei eine
Schlüsselrolle. Arbeiten sie effizienter, fliegen die Passagiere
günstiger. Ferner sinken die Emissionen. Kurzum: Die Airline, die
Reisenden und die Umwelt sind im Vorteil.
Um die ambitionierten Ziele zu erreichen, arbeiten die Triebwerksentwickler der MTU Aero Engines seit Jahren am Getriebefan (GTF™) Triebwerk, das bald den Airbus A320neo antreiben wird. Die Idee hinter dem GTF Triebwerk: Ein Getriebe ermöglicht unterschiedliche Drehzahlen von Fan und Niederdruckturbine. Was simpel klingt, war eine Mammutaufgabe. Denn in der Niederdruckturbine – heute den schweren Nickellegierungen vorbehalten – kommen, wegen der deutlich höheren Drehzahlen, ganz neue Anforderungen auf die Werkstoffe zu – besonders die Fliehkräfte steigen. Aus diesem Grund suchten die MTU-Ingenieure nach einem neuen leichten und zudem kriechfesten und hitzebeständigen Material.
„Seit wir an der schnelllaufenden Niederdruckturbine für den Getriebefan arbeiten, sind Titanaluminide im Gespräch“, sagt Dr. Wilfried Smarsly, Fachreferent neue Werkstoffe bei der MTU. Titanaluminide, kurz TiAl, sind eine Werkstoffklasse für sich, eine auf atomarer Ebene abgestimmte Verbindung mehrerer Metalle. Die Anteile der Titan- und Aluminiumatome werden in einem ganz bestimmten Verhältnis eingestellt. „So entsteht eine sogenannte intermetallische Verbindung mit einer geordneten Kristallstruktur“, erklärt Prof. Dr. Helmut Clemens, Werkstoffwissenschaftler an der Montanuniversität Leoben, MTU-Entwicklungspartner und einer der versiertesten Wegbereiter für TiAl. „Jedes Atom sitzt auf einem ganz bestimmten Platz. Das ist das Kennzeichen der Titanaluminide und verantwortlich für seine besonderen Eigenschaften.“
Clemens und Smarsly kennen sich seit Jahren, fachsimpelten über den Werkstoff, sinnierten, wie sie seine Eigenschaften optimieren und ihm letztlich zum Durchbruch verhelfen könnten. Denn eines ist ihnen - genau wie etlichen Wissenschaftlern - seit rund 30 Jahren klar: Titanaluminide werden die Luftfahrt revolutionieren. Sie vereinen das Beste aus zwei Welten. Smarsly beschreibt das so: „Ein Kind von einem Metall und einer Keramik."
Doch bislang war der Leichtbau-Werkstoff kaum umform- und bearbeitbar. Er war schlicht zu spröde. Das hat sich, dank der interdisziplinären und übergreifenden Forschungsarbeiten der MTU gehörig geändert. Involviert waren neben Pratt & Whitney die Montanuniversität Leoben, Materiallieferanten, eine Schmiedefirma und weitere Spezialisten. „Die Hersteller als auch die kleinen Betriebe waren bereit, neue Wege zu gehen und zu investieren. Das war mutig", lobt Dr. Jörg Eßlinger, Leiter Werkstofftechnik bei der MTU.
Geholfen hat auch der immense Druck des Marktes. Weltweit suchen Triebwerkshersteller nach neuen Werkstoffen, nach Möglichkeiten, die Effizienz ihrer Antriebsaggregate zu erhöhen. Und alle haben TiAl im Blick. Innerhalb der MTU war es anfangs schwer, mit der Idee vom Superwerkstoff zu überzeugen, erinnert sich Smarsly: „Alle dachten in Metallen." Dabei wurde er 1987 genau aus diesem Grund angeheuert - sein Auftrag: Intermetallische Werkstoffe zu erforschen. Fast glaubte er schon nicht mehr an den Erfolg des TiAl. Doch 2008 erlebte er einen Schlüsselmoment: Beim Schleudertest wollte Smarsly seinen Kollegen zeigen, was die intermetallischen Schaufeln können: „Beim Überdrehzahltest rechneten alle mit einer erheblichen Beschädigung der Schaufel." Doch die Schaufel blieb völlig heil. „Da war ich selbst beeindruckt", sagt Smarsly.
2009 war man sich bei der MTU dann einig, dass der neue Werkstoff Einzug in die nächste Triebwerksgeneration halten soll. Und zwar aus einem zwingenden Grund: „Die Getriebefan-Turbine braucht wegen der hohen Drehzahlen Titanaluminide", so Smarsly.
Heute, knapp fünf Jahre später, läuft der Serieneinsatz der TiAl-Schaufeln an, 2014 folgt die Zertifizierung. In Rekordzeit hat man es geschafft, eine gänzlich neue Werkstoffklasse in die Serie zu bringen. „Das ging nur deshalb so schnell, weil viele Prozesse parallel liefen. Das war geschickt gestaffelt", unterstreicht Dr. Marc Haltrich, Senior Consultant Fertigungsprojekt TiAl.
Tatsächlich wurde - gefördert durch das Luftfahrtforschungsprogramm des BMWi - an vielen Fronten gleichzeitig geforscht und entwickelt: An der Montanuniversität wurde das Legierungskonzept des Werkstoffs aus der Taufe gehoben, Zulieferer feilten an den Verarbeitungsmöglichkeiten - vom Schmieden bis zum Fräsen des neuen Werkstoffs - und bei der MTU kümmerte man sich um die triebwerksgerechte Materialqualität, die Qualifizierung sowie die Parameter, die er am Gesamtprodukt Turbine verändern würde. Denn eines ist klar: Ein Material, das in etwa nur halb so schwer ist wie etablierte Nickellegierungen, eröffnet einen neuen Design-Horizont. Zum einen zählt die direkte Gewichtsersparnis der Schaufeln, zum anderen können auch andere Komponenten des Triebwerks, etwa die Scheibe leichter gebaut werden. Letztlich wird das gesamte Triebwerk leichter - und auch der Flügel, der das Triebwerk trägt. Haltrich: „In so einem Material steckt immens viel Kompetenz, gerade in den Bereichen Werkstofftechnik, Strukturmechanik, Design und Engineering, aber auch in der gesamten Herstellkette. Das zeichnet ein Unternehmen wie die MTU ja auch aus."
„Die TiAle stoßen derzeit als einzig erfolgreiche Alternative in die Domäne der schweren Nickellegierungen vor", bringt es Eßlinger auf den Punkt, der den neuen Werkstoff seit Jahren begleitet. Von einem „interessanten Effekt" spricht er, wenn er aufzählt, welches Material welche Temperaturen meistert: Aluminium 200 Grad Celsius, Titan 500 Grad Celsius. Und deren Kombination TiAl: 800 Grad Celsius. Doch TiAl hat auch seine Schwächen: Seine geringe Verformbarkeit, insbesondere bei Raumtemperatur, galt als Hinderungsgrund für Herstellung und Einsatz. Bislang - denn genau daran hat man in den letzten zehn Jahren geforscht. Die Sprödigkeit hat man dem TiAl regelrecht abtrainiert, die Herstellverfahren und das Design werkstoffgerecht gestaltet. Ein Ergebnis der sehr engen und konstruktiven Zusammenarbeit aller Disziplinen und Partner.
Was hier geleistet wurde, ist wegweisend. Die Spezialisten haben alles aufgefahren, was die Wissenschaft bietet, um dem Werkstoff seine tiefsten Geheimnisse zu entlocken. Sie haben mit Atomsonden einzelne Atome im Material gezählt und mit hochauflösenden Transmissionselektronenmikroskopen Untersuchungen auf atomarem Level durchgeführt. So erkennt man, welche Phasen - so nennt man die einzelnen Bestandteile der Mikrostruktur - zusammenpassen. Daran kann man die mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffs ablesen. Sie haben mit Neutronen und hochenergetischen Röntgenstrahlen Phasenübergänge analysiert und in Erfahrung gebracht, bei welcher Temperatur sich das Material am besten verformt.
Mit kriminologischem Gespür und wissenschaftlicher Neugier haben die Werkstoffwissenschaftler gelernt, wie das Material behandelt werden will. So konnten sie auch das schwierigste Rätsel lösen: Nämlich wie man TiAl in Schaufelform bringt. „Der Werkstoff ist sehr schwer umformbar", sagt Clemens. Gießen geht nicht, da man damit nicht die für den GTF Antrieb gewünschten mechanischen Eigenschaften erreicht. Also konzentrierte man sich auf das Schmieden. Doch auch das ist alles andere als profan, denn der Werkstoff ist auch hart - das Umformen auf großen Pressen würde zu lange dauern. Jetzt kommen all die Hightech-Untersuchungen zum Tragen, denn dabei lernte man, welche Phasenzusammensetzung am besten zum Umformen geeignet ist. Man muss die Phasen nur gezielt einstellen - und dies zum Teil nach der Umformung wieder rückgängig machen. „Durch thermodynamische Berechnungen wurde ausgelotet, in welchem Temperaturbereich und mit welcher Phasenkonfiguration geschmiedet werden kann", sagt Clemens. „Der Schmiedeprozess kann nun auf konventionellen Umformmaschinen durchgeführt werden - das ist die eigentliche Revolution."
Und noch etwas ist neu: Die intensive Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen. Denn gegossen, geschmiedet und bearbeitet werden die TiAl-Schaufeln nicht bei der MTU. „In-house finden nur noch Materialprüfungs-und Veredelungsschritte statt", sagt Peter Schneider, Leiter Oberflächentechnik bei der MTU. „Selten teilte man derart intensiv Know-how mit den Lieferanten", ergänzt Uwe Böhm, Leiter Einkauf Schaufeln. Doch auch anders herum ist die Art der Zusammenarbeit ungewohnt: „Unsere Lieferanten gehen beim Thema TiAl ein hohes strategisches Commitment ein. Ein Großteil der Wertschöpfung liegt bei ihnen. Dafür verraten sie uns aber auch ihre Geheimnisse. Da ist ein hohes Maß an Vertrauen auf beiden Seiten gefragt."
Unterdessen arbeiten die Werkstoffspezialisten schon an der nächsten, der vierten Generation der Titanaluminide. Denn eines ist klar: Das Material bietet noch enormes Potenzial. Schon bald soll es noch temperaturbeständiger sein und in der Turbine immer weiter vorrücken. Heute ist schon erkennbar, dass die Triebwerke von übermorgen noch effizienter und umweltfreundlicher sein werden.
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