Daniel Hautmann

Journalist (Technik, Energie, Umwelt), Hamburg

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Titan­aluminid - das Beste aus zwei Welten

Titanaluminid ist ein zukunftsweisender Werkstoff. Aus ihm hergestellte Schaufeln sind nur halb so schwer wie jene aus Nickellegierungen. Sie haben eine geringere Dichte, einen hohen Schmelzpunkt und eine gute Korrosionseigenschaft. Das maßgeschneiderte Material macht Triebwerke leiser, sparsamer und umweltfreundlicher. Schon im kommenden Jahr wird es sich im Einsatz beweisen: im Airbus A320neo. Und das ist nur der Anfang, denn Spezialisten bescheinigen dem Werkstoff eine hochfliegende Zukunft.



Die Anforderungen an die Flugzeuge der nächsten Generation sind enorm: Die Maschinen sollen leiser, sprit­sparender und umwelt­schonender werden. Die Trieb­werke spielen dabei eine Schlüssel­rolle. Arbeiten sie effizienter, fliegen die Passagiere günstiger. Ferner sinken die Emissionen. Kurzum: Die Airline, die Reisenden und die Umwelt sind im Vorteil.


Um die ambitionierten Ziele zu erreichen, arbeiten die Trieb­werks­entwickler der MTU Aero Engines seit Jahren am Getriebefan (GTF™) Triebwerk, das bald den Airbus A320neo antreiben wird. Die Idee hinter dem GTF Triebwerk: Ein Getriebe ermöglicht unterschiedliche Drehzahlen von Fan und Nieder­druck­turbine. Was simpel klingt, war eine Mammut­aufgabe. Denn in der Nieder­druck­turbine – heute den schweren Nickel­legierungen vorbehalten – kommen, wegen der deutlich höheren Drehzahlen, ganz neue Anforderungen auf die Werkstoffe zu – besonders die Flieh­kräfte steigen. Aus diesem Grund suchten die MTU-Ingenieure nach einem neuen leichten und zudem kriech­festen und hitze­beständigen Material.


„Seit wir an der schnell­laufenden Nieder­druck­turbine für den Getriebefan arbeiten, sind Titanaluminide im Gespräch“, sagt Dr. Wilfried Smarsly, Fach­referent neue Werkstoffe bei der MTU. Titanaluminide, kurz TiAl, sind eine Werk­stoff­klasse für sich, eine auf atomarer Ebene abgestimmte Verbindung mehrerer Metalle. Die Anteile der Titan- und Aluminium­atome werden in einem ganz bestimmten Verhältnis eingestellt. „So entsteht eine sogenannte inter­metallische Verbindung mit einer geordneten Kristallstruktur“, erklärt Prof. Dr. Helmut Clemens, Werkstoff­wissenschaftler an der Montanuniversität Leoben, MTU-Entwicklungs­partner und einer der versiertesten Wegbereiter für TiAl. „Jedes Atom sitzt auf einem ganz bestimmten Platz. Das ist das Kennzeichen der Titanaluminide und verantwortlich für seine besonderen Eigenschaften.“


Clemens und Smarsly kennen sich seit Jahren, fach­simpelten über den Werkstoff, sinnierten, wie sie seine Eigen­schaften optimieren und ihm letztlich zum Durch­bruch verhelfen könnten. Denn eines ist ihnen - genau wie etlichen Wissen­schaftlern - seit rund 30 Jahren klar: Titanaluminide werden die Luftfahrt revolutionieren. Sie vereinen das Beste aus zwei Welten. Smarsly beschreibt das so: „Ein Kind von einem Metall und einer Keramik."


Doch bislang war der Leicht­bau-Werk­stoff kaum umform- und bearbeitbar. Er war schlicht zu spröde. Das hat sich, dank der inter­disziplin­ären und über­greifenden Forschungs­arbeiten der MTU gehörig geändert. Involviert waren neben Pratt & Whitney die Montan­universität Leoben, Material­lieferanten, eine Schmiede­firma und weitere Spezialisten. „Die Hersteller als auch die kleinen Betriebe waren bereit, neue Wege zu gehen und zu investieren. Das war mutig", lobt Dr. Jörg Eßlinger, Leiter Werkstoff­technik bei der MTU.


Geholfen hat auch der immense Druck des Marktes. Weltweit suchen Trieb­werks­hersteller nach neuen Werkstoffen, nach Möglichkeiten, die Effizienz ihrer Antriebs­aggregate zu erhöhen. Und alle haben TiAl im Blick. Innerhalb der MTU war es anfangs schwer, mit der Idee vom Super­werk­stoff zu überzeugen, erinnert sich Smarsly: „Alle dachten in Metallen." Dabei wurde er 1987 genau aus diesem Grund angeheuert - sein Auftrag: Inter­metallische Werk­stoffe zu erforschen. Fast glaubte er schon nicht mehr an den Erfolg des TiAl. Doch 2008 erlebte er einen Schlüssel­moment: Beim Schleudertest wollte Smarsly seinen Kollegen zeigen, was die inter­metallischen Schaufeln können: „Beim Über­dreh­zahltest rechneten alle mit einer erheblichen Beschädigung der Schaufel." Doch die Schaufel blieb völlig heil. „Da war ich selbst beeindruckt", sagt Smarsly.

2009 war man sich bei der MTU dann einig, dass der neue Werkstoff Einzug in die nächste Trieb­werks­generation halten soll. Und zwar aus einem zwingenden Grund: „Die Getriebefan-Turbine braucht wegen der hohen Dreh­zahlen Titanaluminide", so Smarsly.


Heute, knapp fünf Jahre später, läuft der Serien­einsatz der TiAl-Schaufeln an, 2014 folgt die Zertifizierung. In Rekordzeit hat man es geschafft, eine gänzlich neue Werk­stoff­klasse in die Serie zu bringen. „Das ging nur deshalb so schnell, weil viele Pro­zesse parallel liefen. Das war geschickt gestaffelt", unterstreicht Dr. Marc Haltrich, Senior Consultant Fertigungs­projekt TiAl.

Tatsächlich wurde - gefördert durch das Luftf­ahrtforschungs­programm des BMWi - an vielen Fronten gleichzeitig geforscht und entwickelt: An der Montanuniversität wurde das Legierungs­konzept des Werk­stoffs aus der Taufe gehoben, Zulieferer feilten an den Verarbeitungs­möglichkeiten - vom Schmieden bis zum Fräsen des neuen Werk­stoffs - und bei der MTU kümmerte man sich um die triebwerks­gerechte Material­qualität, die Qualifizierung sowie die Parameter, die er am Gesamtprodukt Turbine verändern würde. Denn eines ist klar: Ein Material, das in etwa nur halb so schwer ist wie etablierte Nickel­legierungen, eröffnet einen neuen Design-Horizont. Zum einen zählt die direkte Gewichts­ersparnis der Schaufeln, zum anderen können auch andere Komponenten des Trieb­werks, etwa die Scheibe leichter gebaut werden. Letztlich wird das gesamte Trieb­werk leichter - und auch der Flügel, der das Triebwerk trägt. Haltrich: „In so einem Material steckt immens viel Kompetenz, gerade in den Be­reichen Werk­stoff­technik, Struktur­mechanik, Design und Engineering, aber auch in der gesamten Herstell­kette. Das zeichnet ein Unter­nehmen wie die MTU ja auch aus."


„Die TiAle stoßen derzeit als einzig erfolgreiche Alter­native in die Domäne der schweren Nickel­legierungen vor", bringt es Eßlinger auf den Punkt, der den neuen Werk­stoff seit Jahren begleitet. Von einem „interessanten Effekt" spricht er, wenn er aufzählt, welches Material welche Temperaturen meistert: Aluminium 200 Grad Celsius, Titan 500 Grad Celsius. Und deren Kombination TiAl: 800 Grad Celsius. Doch TiAl hat auch seine Schwächen: Seine geringe Verform­barkeit, insbesondere bei Raum­­temperatur, galt als Hinderungs­grund für Herstellung und Einsatz. Bislang - denn genau daran hat man in den letzten zehn Jahren geforscht. Die Sprödigkeit hat man dem TiAl regelrecht abtrainiert, die Herstell­verfahren und das Design werkstoffgerecht gestaltet. Ein Ergebnis der sehr engen und konstruktiven Zusammen­arbeit aller Disziplinen und Partner.


Was hier geleistet wurde, ist wegweisend. Die Spezialisten haben alles aufgefahren, was die Wissenschaft bietet, um dem Werkstoff seine tiefsten Geheimnisse zu ent­locken. Sie haben mit Atom­sonden einzelne Atome im Material gezählt und mit hoch­auf­lösenden Transmissions­elektronenmikroskopen Untersuchungen auf atom­arem Level durchgeführt. So erkennt man, welche Phasen - so nennt man die einzelnen Bestandteile der Mikrostruktur - zusammenpassen. Daran kann man die mech­anischen Eigenschaften eines Werkstoffs ablesen. Sie haben mit Neutronen und hochenergetischen Röntgenstrahlen Phasenübergänge analysiert und in Erfahrung gebracht, bei welcher Temperatur sich das Material am besten verformt.

Mit kriminologischem Gespür und wissenschaftlicher Neugier haben die Werkstoff­wissenschaftler gelernt, wie das Material behandelt werden will. So konnten sie auch das schwierigste Rätsel lösen: Nämlich wie man TiAl in Schaufelform bringt. „Der Werk­stoff ist sehr schwer umformbar", sagt Clemens. Gießen geht nicht, da man damit nicht die für den GTF Antrieb gewünschten mechanischen Eigen­schaften erreicht. Also konzentrierte man sich auf das Schmieden. Doch auch das ist alles andere als profan, denn der Werkstoff ist auch hart - das Umformen auf großen Pressen würde zu lange dauern. Jetzt kommen all die Hightech-Untersuchungen zum Tragen, denn dabei lernte man, welche Phasen­zusammen­setzung am besten zum Umformen geeignet ist. Man muss die Phasen nur gezielt einstellen - und dies zum Teil nach der Umformung wieder rückgängig machen. „Durch thermo­dynamische Berechnungen wurde aus­gelotet, in welchem Temperatur­bereich und mit welcher Phasen­konfiguration geschmiedet werden kann", sagt Clemens. „Der Schmiede­prozess kann nun auf konventionellen Umform­maschinen durchgeführt werden - das ist die eigentliche Revolution."


Und noch etwas ist neu: Die intensive Zusammen­arbeit mit Partner­unternehmen. Denn gegossen, geschmiedet und bearbeitet werden die TiAl-Schaufeln nicht bei der MTU. „In-house finden nur noch Material­prüfungs-und Veredelungs­schritte statt", sagt Peter Schneider, Leiter Ober­flächen­technik bei der MTU. „Selten teilte man derart intensiv Know-how mit den Lieferanten", ergänzt Uwe Böhm, Leiter Einkauf Schaufeln. Doch auch anders herum ist die Art der Zusammen­arbeit ungewohnt: „Unsere Lieferanten gehen beim Thema TiAl ein hohes strategisches Commitment ein. Ein Großteil der Wert­­schöpfung liegt bei ihnen. Dafür verraten sie uns aber auch ihre Geheimnisse. Da ist ein hohes Maß an Vertrauen auf beiden Seiten gefragt."


Unterdessen arbeiten die Werk­stoff­spezialisten schon an der nächsten, der vierten Generation der Titanaluminide. Denn eines ist klar: Das Material bietet noch enormes Potenzial. Schon bald soll es noch temperatur­beständiger sein und in der Turbine immer weiter vorrücken. Heute ist schon erkennbar, dass die Trieb­werke von über­morgen noch effizienter und umwelt­freundlicher sein werden.



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