Cristina Helberg

Journalistin & Medientrainerin, NRW

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Artikel

Corona-Fake-News: 11.000 Unwahrheiten

Nach mehreren Notrufen entschied sich die Polizei in Wien am Abend des 19. März 2020 die Bevölkerung mit einer ungewöhnlichen Nachricht bei Twitter und Facebook zu beruhigen: "Es werden keine Hubschrauber über Wien fliegen und es werden auch keine Chemikalien versprüht."

Zuvor hatten WhatsApp-Kettenbriefe und Facebook-Nachrichten vor fünf Helikoptern gewarnt, die ab 23:30 Uhr Desinfektionsmittel über der Stadt versprühen würden, um das Coronavirus "auszurotten". Eine Falschmeldung, die an diesem Märzabend schon eine weite Reise hinter sich hatte.

Einen Tag zuvor hatte eine nahezu identische Nachricht Menschen in Argentinien in Panik versetzt. Gleichzeitig kursierte die Behauptung über die fünf chemieversprühenden Hubschrauber in Venezuela, Uruguay und Spanien, aber auch in Indien und Taiwan.

Nach dem Zwischenstopp in Wien verbreitete sich die Nachricht noch bis mindestens Juli weiter um die Welt und tauchte in den USA, Sri Lanka und in Großbritannien auf.

Nachvollziehen lässt sich der Weg der Falschmeldung dank der "CoronaVirusFactsAlliance", einem Zusammenschluss von 99 Faktencheck-Redaktionen aus mehr als 70 Ländern. In einer durchsuchbaren Online-Datenbank tragen sie ihre Artikel zusammen und zeigen mit Visualisierungen, wie die Infodemie sich um den Globus verteilt.

Jeder kann so nach bereits widerlegten Falschmeldungen in der Datenbank suchen. Gleichzeitig erleichtert das gesammelte Wissen die Arbeit anderer Faktenchecker, weil sie auf die Recherchen ihrer Kollegen zurückgreifen können.

Organisiert hat das die Brasilianerin Cristina Tardáguila, 40, stellvertretende Direktorin des International Fact-Checking Network (IFCN) mit Sitz in den USA. "Das vergangene Jahr war ein Marathon für Faktenchecker weltweit", sagt sie. Seit Januar 2020 trägt Tardáguila mit Kolleginnen und Kollegen über sechzehn Zeitzonen hinweg Corona-Falschmeldungen zusammen.

"In der Datenbank sind jetzt ungefähr 11.000 Unwahrheiten, die rund um den Planeten entdeckt worden sind." Darunter auch die verbreitete Falschbehauptung, Infrarot-Thermometer würden Hirnschäden verursachen. "Ich bin überrascht, wie sich dieser dumme Hoax so lange gehalten hat", sagt Tardáguila.

Die "CoronaVirusFactsAlliance" ist nur eine von vielen neuen Ideen, die im ersten Pandemiejahr entstanden sind. "Wir Faktenprüfer sind näher zusammengerückt. Wir reden und arbeiten viel mehr miteinander und konnten viele neue Projekte starten", so Tardáguila.

So hat die Organisation Teyit in der Türkei seit Beginn der Corona-Pandemie mehrere neue Verbreitungswege für ihre Recherchen entwickelt. Dazu gehört ein Covid-19-Newsletter mit Faktenchecks und Fragen an die Community. Die Reaktionen der mittlerweile 14.000 Abonnenten haben die Chefredakteurin Gülin Çavuş, 30, überrascht. "Wir haben viel positives Feedback bekommen und verstanden, dass die Menschen mit uns interagieren möchten", sagt Çavuş.

Ergänzt durch Webinare und einen Podcast sollen die Leserinnen und Leser nicht nur auf einzelne Fakes aufmerksam werden, sondern Medienkompetenz erlernen. Seit drei Wochen ist die Redaktion auch bei Clubhouse aktiv. "Wir sprechen mit den Zuhörern zum Beispiel darüber, wie die Polarisierung in unserem Land Falschinformation begünstigt."

Gleichzeitig versucht das Team von Gülin Çavuş auch Ältere und Bürger abseits von sozialen Netzwerken anzusprechen. Ende 2019 hat die Organisation etwa angefangen ihre Rechercheergebnisse auf Bildschirmen in der Metro, in Bussen und auf Fähren in Istanbul zu zeigen. Und zu Beginn der Coronakrise gewannen sie mit dem Projekt einen Innovationszuschuss des IFCN und können ihre Artikel nun auch in Ankara auf Werbeflächen an zentralen Straßen und im öffentlichen Nahverkehr platzieren.

Neue Wege im Kampf gegen Falschmeldungen geht auch Alexa Volland, 29. Aus ihrem Homeoffice in St. Petersburg in Florida koordiniert sie ein Netzwerk von jugendlichen Faktenprüfern für die Organisation MediaWise. Das 2018 gegründete Programm bringt US-amerikanischen Teenagern Verifikationstechniken bei, die sie dann in eigenen Videos anwenden. In einem Clip decken sie zum Beispiel Memes auf, die Jacob Blake, einem durch Polizisten schwer verletzten Schwarzen, falsche Bilder zuordnen.

"Die Instagram-Startseite eines 16-Jährigen sieht ganz anders aus als meine", sagt Volland. "So können wir Behauptungen überprüfen, die anderen Organisationen vielleicht nicht aufgefallen wären."

Vor der Pandemie war Instagram das Haupttool der Jugendlichen. Im April 2020 ging dann eines ihrer Corona-Faktencheck-Videos auf TikTok viral und wurde seitdem mehr als 190.000 Mal angesehen.

Seit dem ersten viralen Video hat das Teenager-Netzwerk mehr als 90 weitere TikToks veröffentlicht, mehrere wurden mehr als hunderttausendmal angesehen. Um auf der Plattform erfolgreich zu sein, dürfen die Videos nicht nur informativ sein. "Es muss sich lustig und unterhaltsam anfühlen", so Volland. Nun wollen sich die Jugendlichen mit einer eigenen Serie auch zu YouTube wagen, um Falschmeldungen dort zu bekämpfen. "Das war so etwas wie die letzte Herausforderung für uns", erklärt Volland. Denn YouTube-Videos sind oft lang und beinhalten eine Vielzahl von Behauptungen, das macht ihre Prüfung zeitaufwendig.

Diese Arbeit erleichtert die "CoronaVirusFactsAlliance" des IFCN, an der sich auch MediaWise beteiligt. "Durch die Datenbank haben wir gesehen, welche Fehlinformationen zum Coronavirus anderswo auf der Welt im Trend lagen, bevor sie dann auch in den Feeds von Teenagern hier auftauchten", so Volland. In ihren Videos verweisen die Jugendlichen oft auf Recherchen von Kollegen aus der Allianz, zum Beispiel auf die US-Faktencheck-Organisation Politifact.

Die Falschmeldung zu den fünf Helikoptern widerlegte Politifact am 24. März 2020. Fünf Tage nach den Notrufen in Wien und knapp 15 Wochen, bevor die Allianz die Behauptung zum letzten Mal in ihrem Netzwerk entdeckte. Auf den Philippinen.

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