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Der Maestro der Pasta

Einmal zögert Mimmo, bevor er antwortet. Dabei weiß er doch alles über italienisches Essen und spricht von Gerichten, als wären sie alte Freunde, die er vermisst. Er reißt die Augen auf, fasst sich an den weißen Schnurrbart und schaut mich mit seinem runden Gesicht an, als wäre meine Frage das Bescheuertste, was er seit Langem gehört hat. "Wieso reden Italiener eigentlich ständig über Essen?"

Die Frage lässt ihn nicht los. Abends wird er seinen Freund Donato anrufen, mit ihm beratschlagen und mir am nächsten Tag die Antwort geben. Aber erst mal essen wir, "schpaghetti alla puttaneschka", sagt er strahlend auf Neapolitanisch. Si mangia!

Essen ist fertig! Wie oft habe ich das gehört. Mein Vater stammt aus , er besitzt ein italienisches Restaurant in Hamburg, ich bin darin groß geworden. Die Frage treibt auch mich um. In meiner Kindheit ging es ständig um Gnocchi und Lasagne, darum, dass T-Shirts nach den Sommerferien nach den getrockneten Tomaten rochen, die wir kiloweise in Koffer gestopft hatten, um sie nach Deutschland zu fahren. Ständig spricht mein Vater über pasta, olio, sugo. Bis heute. Papà und Mimmo, denke ich sofort, würden sich gut verstehen.

Domenico Corcione, 77, wird von allen nur Mimmo genannt. Er ist ein kleiner, liebenswürdiger, mit den Jahren etwas kräftig gewordener Mann, der so kocht, dass ich mir sofort vorstellen könnte, ab jetzt jeden Tag meines Lebens hier zu sitzen. Hier, das ist ein Esstisch in Gaiarine, einem Ort mit etwa 6000 Einwohnern in der Provinz Treviso in Venetien, Norditalien. Eine Kirche, eine leere Piazza, ein Schlachter, kein Supermarkt. In der Essküche krümelt Weißbrot auf die dunkelblaue Tischdecke, ein Tropfen Wein ging auch schon daneben.

Es war gar nicht einfach, Mimmo zu finden. Als ich in der Gemeinde anrief, fragte die Frau am Telefon: "In Gaiarine macht jemand YouTube-Videos?" Mimmos Kanal @mimmocorcione hat 133.000 Abonnenten, das ist nicht übermäßig viel, aber manche Videos wurden weltweit millionenfach aufgerufen. "Die Leute lieben einfache Gerichte", sagt Mimmo nur und hebt die Schultern. Er erklärt in den kurzen Filmen das Einmaleins der italienischen Küche, langsam, sodass alle mitkommen, und manchmal mit Dampf auf der Kameralinse. Das Bild wackelt, das Öl brutzelt zu laut, vieles dauert zu lange, die Effekte sind unfreiwillig komisch und die fertigen Teller nicht wirklich instagrammable. Nur: Das alles ist völlig egal. Es geht hier um Mimmo und sein Mittagessen. Wenn er einen leeren Stuhl einblenden will, auf den er sich dann aus dem Nichts zaubert, oder in die Kamera winkt wie ein Baby, Fäustchen, Hand auf, dann macht er das einfach. Über 1100-mal hat er sich gefilmt, gewinkt, geschnibbelt, erzählt, aufgegessen, gesichtet, geschnitten und gepostet. Für ein Video braucht er einen Tag. Seine Frau Maria Rosa, weiße Schürze, beiges Jäckchen, trocknet Teller, kramt in Schubladen. Sie huscht herum und versucht, in den Videos nicht aufzutauchen.

Mimmos Spaghetti mit Thunfisch und Zwiebeln haben auf über zwei Millionen Aufrufe. So ganz erklären kann er sich das nicht. Er macht das nur mit Maria Rosa als Assistentin. Er wälzt Bücher mit Rezepten, befestigt sein altes iPad zum Filmen mit Bändern auf einem Holzständer, schneidet darauf das Filmmaterial. Auch die Musik ist hausgemacht, er spielt sie selbst ein, wegen der Rechte, liebt seine Gitarren und die Beatles. In einem Video spielt er ein Weihnachtslied. Das alles taucht in seinen Videos auf, wir lernen ihn kennen, wie einen lieben Opa. Manchmal sitzt er im Video mit der Familie am Tisch. Hin und wieder hält er beim Essen seinem Schwager, dem "Lieblingsopfer", die Kamera ins Gesicht, während dieser Spaghetti aufsaugt, und fragt: "Buono?" Geld habe er nie für Videos bekommen, sagt Mimmo, Werbung habe er abgelehnt. Wenn ich ihn frage, wieso er es dann tut, bittet er um Geduld. Si mangia.

Manche nennen ihn in den Kommentaren "Maestro", das ist ihm unangenehm, sagt er, er sei doch nur ein cuoco casalingo, ein Zuhause-Koch. Er macht das seit 2007, da war YouTube gerade zwei Jahre online, wer in das Wort "Influencer" hörte, dachte vermutlich an Grippe.

Jetzt erzählt Mimmo davon, wie sein Leben begann. Am 21. Januar 1946 explodiert in Torre Annunziata in der Nähe von Neapel ein Zug, 27 Güterwaggons, beladen mit Sprengstoff und Fliegerbomben, es gibt mehrere Tote. Am nächsten Morgen wird Mimmo geboren. "Mit einem Knall", wie er sagt, nur um dann hinzuzufügen: "Wusstest du, dass Torre Annunziata lange vor Gragnano berühmt für seine Pasta war?" Die Pasta aus Gragnano gilt als die beste Italiens. Er fragt häufiger zwischendurch, wie ein Lehrer, der wissen will, ob sein Schüler mitkommt. Meistens fragt er, ob ich dieses oder jenes Gericht kenne: Bagna cauda aus dem Piemont? Wenn ich verneine, schaut er ganz traurig, sagt "Oooooh!" oder "Da hast du im Leben etwas verpasst!". Maria Rosa hat unauffällig zugehört, sie springt schnell ein, ruft: "Mimmo! Er ist doch noch jung!"

Mimmos Vater war Dreher, Werksleiter bei der Eisenbahn, die Mutter, vormals Sekretärin, hatte zu Hause zu tun. Also geht Mimmo nach der Schule zu Zia Ada, seiner Tante, und wird ihr Souschef. "Mimmì, hol mir mal die Zwiebeln!", macht er sie in hoher Stimmlage nach. Sie kocht die San-Marzano-Tomaten kurz, schneidet oben ein Kreuz ein und zieht die Schale ab, wie bei Blumen, erinnert Mimmo sich. Dieser Duft! Diese Tomaten vom Vesuv! Der Vesuv. Er schweigt kurz. Sie waren nach Neapel gezogen, wo der Vater einen besseren Job bekommen hatte. Wenn Mimmo so zurückdenkt an seine Schulzeit in der wuseligen Großstadt, dann erinnert er sich vor allem an Hunger. Mit Wasser im Mund beobachtet er die Bauarbeiter, die sich mittags Brote kaufen, sie aushöhlen, nur um noch mehr in die Teiggrube zu kippen: Paprika, Auberginen, ja sogar pasta al ragù. Dazu trinken sie ein Peroni-Bier. Mimmo staunt. Zu Hause kocht natürlich die Mamma, und auch wenn sie immer seltener das Salz vergisst, sind alle froh, wenn die Familie zu deren Schwester Zia Ada fährt. Mit dem Zug ins Dorf, kostenlos wegen Vaters Job bei der Eisenbahn, und pappsatt wieder zurück.

Bei deutschen Freunden denke ich immer, sie wollen lieber nicht zu lange mit mir über Essen sprechen. Zu banal. Wie das Wetter. Es regnet. Oder: Es schmeckt. Ende. In Italien ist es genau umgekehrt. Fast jede Geschichte beginnt beim Essen, mit Essen. Bis es wirklich auch mal reicht, ich "basta" sage. Auch mit meinem Vater muss ich schimpfen, wenn mir etwas auf dem Herzen liegt und er seine Carbonara noch einmal neu interpretiert. Gerichte sind italienische Allgemeinbildung, Hochkultur, nie auserzählt. Oder, wie Mimmo aufrichtig interessiert fragt: "Wie kann es sein, dass es im Land der Dichter und Denker so wenig gutes Essen gibt?"

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