Eine der dunkelsten Stunden des Landes - so bezeichnete Italiens Premierminister Giuseppe Conte die Ausbreitung des Coronavirus. Am Montagabend entschied die Regierung, das ganze Land zur Sperrzone zu erklären. Schulen, Kindergärten, Universitäten wurden geschlossen, Sportveranstaltungen wie die Fußballspiele der Serie A abgesagt. Roberto Burioni, 57, ist Professor für Virologie an der Universität Vita-Salute San Raffaele in Mailand. Über soziale Medien und Fernsehsendungen kommentiert er täglich die Geschehnisse um das Coronavirus. Wie er die aktuelle Lage einschätzt und was nun auch in Deutschland zu tun ist, erklärt er im Interview.
ZEIT ONLINE: Professore Burioni, ich erreiche Sie im Universitätsklinikum San Raffaele in . In der Stadt herrscht das Gebot, zu Hause zu bleiben. Wie war Ihr Weg zur Arbeit?
Roberto Burioni: Ich gehe zu Fuß zur Arbeit, Mailand sieht ganz anders aus. Die Stadt begeistert sonst ihre Bewohner und Touristen, weil sie so schnell und so lebendig ist. Derzeit sieht Mailand aber aus wie im August, wenn alle in den Urlaub fahren. Ich habe meine Frau und meine Tochter in ein Landhaus gefahren, weil es dort sicherer ist.
ZEIT ONLINE: Am vergangenen Samstagabend spielten sich unter anderem am Bahnhof Porta Garibaldi und am Mailänder Hauptbahnhof panische Szenen ab. Einige Menschen wollten weg, sie rannten durch Hallen, stürmten in überfüllte Züge, die musste für Ruhe sorgen. Auslöser war ein öffentlich gewordener Entwurf eines Regierungsdekrets, das die Lombardei und 14 Provinzen Norditaliens bis zum 3. April zur Sperrzone erklärte.
Burioni: Was da geschehen ist, ist sehr schlimm. Plötzlich kam dieser Entwurf an die Öffentlichkeit und viele Menschen verspürten den Impuls, aus der Stadt zu fliehen. Das hätte nicht passieren dürfen. Die Situation ist ohnehin gefährlich, die Intensivstationen der Krankenhäuser hier in einer der am besten organisierten Regionen , der Lombardei, sind bereits überlastet. Es gibt keine Plätze mehr und wenn wir noch mehr Patienten bekommen sollten, können wir nicht alle mit den gleichen Standards behandeln. Wenn die Epidemie sich nun auch in anderen, strukturschwächeren Regionen ausbreitet, könnte alles noch schlimmer werden.
ZEIT ONLINE: Am Montagabend hat die Regierung die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit auf das ganze Land ausgedehnt. Zu Recht?
Burioni: Die Maßnahmen, die getroffen worden sind, waren absolut notwendig. Aber das liest keine Dekrete und es bleibt nur zu hoffen, dass die Italienerinnen und Italiener sie respektieren.
ZEIT ONLINE: Und wenn nicht?
Burioni: Brauchen wir noch strengere Maßnahmen.
ZEIT ONLINE: Wie könnten die aussehen?
Burioni: Die Schließung von allem. Alle Menschen müssen dann Zuhause bleiben. Nur Apotheken und Supermärkte bleiben geöffnet. Das Haus darf nur verlassen, wer alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen trifft, etwa einen Meter Abstand zu anderen Menschen hält. Wenn die Menschen es sonst nicht verstehen, muss das eben passieren.
ZEIT ONLINE: Und wenn sie es jetzt doch verstehen?
Burioni: Dann werden wir beobachten, wie die Fallzahlen nach etwa 10 bis 15 Tagen sinken.
ZEIT ONLINE: Warum gibt es überhaupt so viele Coronavirus-Fälle in Italien und so viele Menschen, die an der Erkrankung Covid-19 gestorben sind?
Burioni: Wir wissen nicht genau, wie das Virus nach Italien kam und wie es sich hier ausgebreitet hat. Es sieht so aus, als sei der Erreger hier einfach früher angekommen als in anderen europäischen Ländern. Und möglicherweise gab es Veranstaltungen, bei denen sich Sars-CoV-2 ausbreiten konnte. Vielleicht über sogenannte Superspreader, also Individuen, die besonders viele Kontakte pflegen. Aber bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir etwas gegen die hohen Fallzahlen tun.
ZEIT ONLINE: Und was?
Burioni: Wir müssen Zeit gewinnen. Sonst wird unser Gesundheitssystem die Notlage nicht bewältigen können und sehr viel mehr Menschen werden sterben. Wir müssen die Ausbreitung verlangsamen und das geht nur, wenn wir unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren.
ZEIT ONLINE: Das fällt Menschen nicht unbedingt leicht.
Burioni: Wir führen ein intensives Sozialleben. Italien bedeutet abends Aperitivo machen, mit Freunden Essen gehen. Die Menschen sind sehr körperlich miteinander, umarmen sich, wenn sie sich sehen. Es fällt mir auch schwer, jemandem nicht die Hand zu geben. Oder meine Familie nicht zu drücken. Jetzt ist all das eine Gefahr, ein Vorteil für das Virus, weil es sich einfacher ausbreiten kann. Die nächsten zwei Wochen sind entscheidend für unser Land. Wir sind in einem Krieg gegen einen Feind, der unsere Gefühle und Gewohnheiten auszunutzen weiß. Alle tragen jetzt Verantwortung.