Die Meldungen über junge Menschen, die sich wegen Online-Terrors umbringen, nehmen nicht ab. Hasskommentare auf Til Schweigers Facebook-Seite sind nicht mit echtem Cybermobbing vergleichbar, sagt Expertin Catarina Katzer.
Cybermobbing ist ein Begriff, den viele nicht mehr hören können. Andererseits nehmen die traurigen Meldungen über junge Menschen, die sich als Opfer von Online-Terror das Leben genommen haben, nicht ab. Catarina Katzer ist Vorstandsmitglied des Bündnisses gegen Cybermobbing und sieht die Medien zum Teil mitverantwortlich dafür, dass das ernste Thema immer öfter eher zu Augenrollen als Mitgefühl führt.
Frau Katzer, wieso wollen viele Menschen mit dem Thema Cybermobbing nichts zu tun haben, obwohl gleichzeitig immer mehr selbst betroffen sind?
Mobbing ist ja immer schon ein unangenehmes Thema gewesen, das nicht so gerne angepackt wurde, weder in Schulen noch in Unternehmen. Dadurch, dass sich das ins Netz verlagert hat, nimmt das aber schon noch mal eine andere Brisanz an. Ich finde leider auch, dass das Thema medial überstrapaziert wird und die Bevölkerung das Gefühl hat, das haben wir doch alles schon gehabt. Die Sensibilität und das Verständnis dafür, was das mit Leuten macht und eigentlich eine ganze Gesellschaft verändert, sind nicht im Kopf der Menschen drin. Der Begriff ist leider eher abgenutzt.
Dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu geben, hat also gar nicht den gewünschten Effekt?
Leider nicht, aber das liegt an der Darstellung. Die Hintergründe und alles, was tiefer geht, die neue Art von Tätern zum Beispiel, kommt meistens nicht rüber.
Das liegt vielleicht auch daran, dass viele nicht wissen, was mit dem Begriff genau gemeint ist. Zum Beispiel erntete Til Schweiger unzählige Hasskommentare auf Facebook, nachdem er zur Unterstützung von Flüchtlingen aufgerufen hatte: Ist das noch Meinungsäußerung oder schon Cybermobbing?
Das wird leider oft in einen Topf geworfen. Wenn jemand Herrn Schweiger beleidigt oder sich negativ äußert, dann ist das nicht gleich Mobbing. Mobbing ist ein lange andauernder Prozess mit dem Ziel dahinter, sein Opfer fertigzumachen. Diese Intention muss da sein, Meinungsäußerung ist zu wenig. Ob das dann moralisch vertretbar ist, wie mit Til Schweiger oder Markus Lanz umgegangen wird, muss natürlich trotzdem diskutiert werden. Aber es ist streng genommen kein Mobbing. Diese Hasskultur, die sich im Internet bildet, hat natürlich schon eine bedenkliche Tendenz. Man muss ja nicht immer einer Meinung sein, aber ethische Grenzen fallen im Netz einfach auch oft weg. Das hat sehr stark damit zu tun, dass wir dort entkörperlicht agieren. Während wir online handeln oder schreiben, agieren wir nicht persönlich mit eigenem Körpereinsatz. Wir sind im virtuellen Raum, wo wir niemandem etwas ins Gesicht sagen müssen. Das trauen sich ja die wenigsten.
Vielleicht ist es auch nicht nur eine Frage von „trauen“, sondern auch, dass die Täter unterschätzen, welche Verletzungen sie mit ihrem Psychoterror wirklich anrichten, weil sie die direkte Reaktion nicht sehen können.
Das ist ein wichtiger Punkt. Viele wissen nicht, was sie dem Opfer wirklich antun, wenn sie sauer sind und zum Beispiel ein peinliches Foto posten oder jemanden online als Schlampe darstellen. Die Opfersituation ist auch eine ganz neue. Allein dadurch, dass alles jetzt vor einer viel größeren Öffentlichkeit passiert, ist die Wirkung viel schmerzhafter, als wenn jetzt nur ein paar in der Klasse oder in meiner Abteilung die Angriffe beobachten. Wenn plötzlich alle Menschen, mit denen ich etwas zu tun habe, wissen, was mit mir gemacht wird, ist das psychisch viel dramatischer. Die Beleidigungen sind ja nie wirklich weg. Auch wenn man sie bei Facebook löscht, kann immer noch alles auf irgendwelchen Festplatten rumliegen und jederzeit wieder auftauchen. Diese Angst ist immer präsent, und man gerät schnell in eine Spirale des Vertrauensverlustes. Opfer von Cybermobbing haben immer mehr Probleme, sich anderen Leuten zu öffnen, weil sie das Gefühl haben, wenn ich einmal etwas Falsches sage, landet das wieder irgendwo.
Gibt es „typische“ Opfer?
Global kann man sagen: Jeder der sich im Netz bewegt, kann Opfer von solchen Angriffen werden. Es gibt aber bestimmte Faktoren, die das begünstigen. Viele Schulopfer werden auch im Netz fertiggemacht, aber oft beginnt es auch schon dort. Dabei spielt auch das eigene Verhalten eine Rolle. Wenn jemand online viel über Probleme redet, macht er sich natürlich angreifbar. Auch die aktuelle „Selfie“-Manie hat damit zu tun. Viele wollen sich sexy darstellen und verschicken Bilder in Unterwäsche, weil sie sich Aufmerksamkeit wünschen, aber der Schuss kann leicht nach hinten losgehen. Dann ist man plötzlich die Schlampe, die mit jedem ins Bett geht. Diejenigen, die weniger offensiv und nicht sehr selbstbewusst sind, sind natürlich auch im Internet keine starken Kerle und werden dann oft schnell als Opfer ausgeguckt.
Ist auch die Hemmschwelle für Angriffe gesunken? In der Schule ist es meist so, dass die Stärkeren die Initiatoren sind, andere fertigzumachen – im Netz kann das jeder.
In der Tat sind unter den Cybermobbing-Tätern oft Opfer von Schulmobbing. Also die, die sich live nicht wehren konnten, haben jetzt im Netz die Chance dazu. Oder Freunde wollen jemanden rächen und gehen dann zu weit. Die meisten Täter sind grundsätzlich eher aggressiv, sowohl analog als auch digital, aber es gibt auch welche, die nur im Netz mal die Sau rauslassen und im schulischen Umfeld eher unauffällig sind. Früher war es einfacher, klassische Täter und Opfer zu identifizieren. Jetzt werden auch Menschen zu Tätern, die sich das ohne Internet nicht getraut oder es nicht gekonnt hätten.
Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich hat herausgefunden, dass Cybermobbing in ihrem Kanton die am häufigsten erlebte Form von Gewalt ist. Ist das gut oder schlecht?
Weder noch. Wir beobachten, dass sich die Gewalt oft verschiebt oder schlimmer noch, vermischt. Wenn zum Beispiel Videos davon gemacht werden, wie Leute verprügelt, bepinkelt oder mit dem Kopf ins Klo gesteckt werden. Wie Mädchen vergewaltigt werden, auf dem Schulhof oder in irgendeiner dunklen Ecke, und das wird dann ins Netz gestellt. Da gibt es eine Verbindung zwischen realer und digitaler Gewalt. Die Opfer werden mit ihrem physischen Erlebnis immer wieder konfrontiert.
Wie sollte man als Betroffener oder als Elternteil reagieren? Handy wegschmeißen oder Internetverbindung kappen sind ja wahrscheinlich keine Lösungen.
Da ist bei vielen der erste Gedanke, und genau deshalb sagen so viele Kinder ihren Eltern nichts, weil sie Angst vor solchen Überreaktionen haben. Es geht ja auch nicht darum, Medien zu verteufeln, die auch für Selbstdarstellung und Kommunikation wichtig sind. Eltern sollten ihren Kindern aber das Gefühl geben, dass sie wissen, was im Netz passieren kann und Ansprechpartner sind. Man sollte Vertrauen aufbauen und Ruhe ausstrahlen, anstatt in Panik zu geraten, wenn etwas falsch läuft. Man kann auch präventiv eine Art Notfallplan aufstellen: Was kann man tun, wenn mir so etwas passiert? Wo sind Anlaufstellen? Wer ist an meiner Schule zuständig? Viele Erwachsene können sich nicht vorstellen, dass virtuelle Gewalt oft noch viel schlimmer wird als die bekannten Formen, weil es auch keinen Schutzraum mehr gibt. Was früher auf dem Schulhof passiert ist, verlagert sich in mein Zuhause, mein Smartphone – das habe ich immer in der Hosentasche. Somit sind auch die Täter immer dabei. Die Sensibilität für diese psychische Dramatik ist bei vielen noch nicht gegeben. Generell ist es wichtig, dass sich alle mit offeneren Augen durchs Netz bewegen. Wenn ich sehe, dass jemand blöd angemacht wird, kann man auch mal Hilfe anbieten. Das sollte man gezielt schulen.
Angenommen, meine Eltern haben noch nie von Cybermobbing gehört, und ich stehe morgens auf und meine Facebook-Pinnwand ist mit Beleidigungen vollgeschmiert. Was mache ich?
Ganz wichtig ist, dass man sofort Freunde hinzuzieht und sie darauf aufmerksam macht. Sich offensiv Hilfe holen, auch wenn das zu Beginn vielleicht übertrieben scheint. Es kommt natürlich auf die Schwere an. Wenn es wirklich unangenehm ist, sollte man schon zu seinen Eltern oder einem Vertrauenslehrer gehen. Wichtig ist, nichts zu löschen, sondern alles zu dokumentieren, um später Beweise zu haben. Es muss natürlich nicht alles in einer Anzeige gipfeln, aber auch zur internen Konfliktlösung können solche Beweise sehr hilfreich sein.
Laut Bundeskriminalamt sind im vergangenen Jahr 12000 Fälle zur Anzeige gebracht worden. Liegt die Dunkelziffer darüber?
Wahrscheinlich. Nicht viele Menschen gehen zur Polizei, auch weil sie oft das Gefühl haben, dass ihnen dort nicht geholfen wird. Es gibt Polizeistellen, die sich gut auskennen, aber viele schicken die Leute auch wieder weg, weil sie die Schwere der Tat nicht verstehen oder einfach nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Dafür sind die meisten schlicht nicht ausgebildet. Die Zahl der Fälle steigt aber in den letzten Jahren stetig an, 20 Prozent der Betroffenen sind in der Regel dauerhaft belastet. Da muss man sich fragen, was mit den Opfern passiert, wenn sie aufgrund psychischer Belastung die Schule nicht beenden und nicht studieren können. Noch unmittelbarer bemerkt man das bei Erwachsenen, die am Arbeitsplatz gemobbt werden und irgendwann ausfallen. Wir haben also nicht nur persönliche, sondern ganz pragmatisch auch volkswirtschaftliche Kosten, die wir uns einfach nicht leisten können. Das muss man bekämpfen, indem wir die Sensibilität für das Thema steigern. Die Menschen im Netz sollten mutiger werden und sich zusammenschließen, nur so können auch die Täter an den Pranger gestellt werden.