Vor zehn Jahren ist Tunesiens Machthaber Ben Ali ausser Landes geflohen. Heute ist der Übergang zur Demokratie gelungen. Doch die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig. Umso wichtiger sei deshalb die Beziehung zu Europa, sagt der Staatswissenschafter Said al-Dailami.
Herr Dailami, ist Tunesien ein Beispiel für eine gelungene Demokratisierung?
Tunesien ist ein gutes Beispiel für einen insgesamt erfolgreichen Übergangsprozess. Anders als seine Nachbarländer hat sich Tunesien ernsthaft und mit beachtlichem Erfolg auf den Weg der Demokratie eingelassen. Nach den Wahlen 2014 und 2019 gab es jeweils eine friedliche Übergabe der Macht, was – wenn man dies mit allen anderen arabischen Staaten vergleicht – keine Selbstverständlichkeit ist. Die neue Verfassung von 2014 spricht für diesen Aufbruch, genauso wie der eingeleitete Prozess der Dezentralisierung. Bei den sozialen und wirtschaftlichen Folgen fällt die Bilanz aber eher durchwachsen aus. Es gibt ein Malaise, das die Legitimität des demokratischen Aufbruchs unterhöhlt. Die Menschen sagen sich: «Was nützt mir die Demokratie, wenn es keinen Wohlstand gibt?»
Warum kommt die Wirtschaft nicht voran?
In diesem Jahr soll die Wirtschaft aufgrund der Pandemie um sieben Prozent schrumpfen. Der Tourismus konnte sich nach den Terroranschlägen von 2015 nie wieder erholen, obwohl es seit 2016 keine gravierenden Angriffe mehr gab. In Sektoren mit wichtigen Exportgütern wie Phosphat gibt es grosse soziale und gewerkschaftliche Probleme. Die Verwaltung ist verknöchert, die internen Widerstandskräfte gegen jegliche Strukturreformen sind enorm. Das verhindert, dass Investitionen flexibler gehandhabt werden. Die Korruption grassiert weiterhin. Das schwächt die Umsetzung grosser Wirtschaftsprojekte. In den nächsten Jahren ist die Krise vorprogrammiert.
Was meinen Sie damit?
Tunesien hat leider kein geeignetes Gegenkonzept gefunden zu Problemen wie einem wachsenden Haushaltsdefizit und der zunehmenden Abhängigkeit von ausländischen Krediten und Geldgebern. Die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und Akademikern, verbunden mit der Aussicht, auch in absehbarer Zukunft keine Arbeit zu finden, frustriert die Menschen ungemein. Die sozialen Unruhen, die es immer in den Wintermonaten gibt, könnten diesmal heftiger ausfallen: Im Winter entlädt sich meist der angestaute Frust, vor allem im Süden Tunesiens, der sich von der Zentralregierung in Tunis im Stich gelassen fühlt. Die meisten Menschen dort leben vom Schmuggel. Wenn der Handel mit Schmuggelware wetterbedingt abnimmt, machen sie mit Strassenblockaden und gewaltsamen Ausschreitungen auf ihre Perspektivlosigkeit aufmerksam.
Es gibt bereits Befürchtungen, dass das Land angesichts der hohen Staatsverschuldung in der Corona-Pandemie in die Insolvenz abdriften könnte.
Ja, Tunesien hängt am Tropf. Horrende Summen fliessen in die Gehälter der Staatsbediensteten. Das abzubauen, ist eine Herausforderung, mit der das Land bis heute kämpft. Aber es gibt ein grosses Interesse der Europäer daran, dass Tunesien keine Insolvenz anmelden muss. Deswegen werden wohl auch weiterhin europäische Kredite ins Land fliessen.
Hat Tunesien seine Vergangenheit unter Ben Ali angemessen aufgearbeitet?
Ich habe den Eindruck, dass das Gros der Tunesier heute keine grosse Lust mehr verspürt, die Vergangenheit bis in die Details aufzuarbeiten. In den letzten zehn Jahren hat sich der Grundsatz der politischen Inklusion verfestigt. Die Koalition aus islamisch-konservativen und laizistisch-konservativen Parteien war dabei prägend. Sie führte zur Erkenntnis, dass nur ein Miteinander den sozialen und politischen Frieden im Land sichert.
Wie hat sich die Partei des politischen Islams, die Nahda, in diesen zehn Jahren entwickelt?
Die Nahda hat genauso einen Wandlungsprozess durchgemacht wie das Land Tunesien, mit offenem Ausgang. Ihr Kern bestand zunächst aus einer Gruppe, die noch stark geprägt war vom politischen Islam der ägyptischen Muslimbrüder. Dieser Kern von Aktivisten, die unter Ben Ali im Exil oder im Gefängnis waren, hat mit der Zeit gelernt, dass der Kontext in Tunesien den politischen Islam – wie er in anderen arabischen Ländern gepredigt wird – nicht zulassen würde. Das säkulare, weltoffene Tunesien hat zu einer Domestizierung und einer teilweisen Säkularisierung der Nahda geführt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich diesem Wandel zu unterziehen, um nicht ins politische Abseits gerückt zu werden. Massgeblich unterstützt und getragen wird der Wandel von einer jungen Parteielite, die sich gerne als muslimisch-demokratisch-weltoffen bezeichnet und in der Frauen eine wichtige Rolle spielen.
Woran machen Sie diesen Wandel fest?
Es gibt heute keinen Heiligenkult mehr um den Parteivorsitzenden Rached Ghannouchi. Eine neue Generation ist herangewachsen, die sich nicht mehr auf ihn konzentriert. Anfangs trat die Nahda als geschlossene Einheit auf, mit einer Stimme nach aussen. Interne Probleme wurden geheim diskutiert. Aber Ghannouchi hat den demokratischen Aufbruch in seinem Führungshandeln nicht verkörpert. Das hat vor allem in den letzten beiden Jahren für grosse Spannungen innerhalb der Partei gesorgt.
Seit 2011 hat sich die geopolitische Lage in der Region grundlegend verändert. Wie wirkt sich das auf Tunesien aus?
Der politische und teilweise militärische Rückzug der Amerikaner aus der Region hat zu einem machtpolitischen Vakuum geführt, in das Iran, die Türkei, Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hineinstossen wollen. Diese Veränderungen wirken sich auch auf Tunesien aus. Das Land befindet sich in einer Art Zange zwischen den Golfstaaten mit ihren Regionalmacht-Ambitionen auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen.
Vor allem die Emirate üben grossen Druck auf die Staatsführung in Tunis aus, damit diese die Zusammenarbeit mit der islamisch-konservativen Nahda beendet. Sie bekämpfen die Muslimbrüder, wo sie können. Die Türkei dagegen unterstützt die Nahda und wünscht sich, dass die Partei weiterhin als politische Kraft bestehen bleibt. Tunesien ist als unmittelbarer Nachbarstaat zu Libyen, wo Ankara grosse Investitionsprojekte wittert, ein strategisch wichtiges Land, in dem die Türkei ihre Präsenz verstärken will.
Bisher ist es Tunesien mit diplomatischem Geschick gelungen, sich aus diesem Dilemma herauszuwinden. Der Druck von beiden Lagern wird aber stärker – und Tunesien ist auf ihre Finanzspritzen angewiesen.
Deshalb ist die Beziehung zu Europa für Tunesien heute wichtiger denn je. Tunesien hofft darauf, dass Europa das genauso sieht. Die EU ist gut beraten, das Land auch weiterhin zu stabilisieren und eine Kooperation auf Augenhöhe zu etablieren. Man sollte Tunesien vermitteln, dass Europa nicht nur danach trachtet, Migration einzudämmen und Fluchtursachen zu bekämpfen, sondern die gemeinsamen Interessen beiderseits des Mittelmeeres ernsthaft voranbringen will.
Wie schätzen Sie die Zukunftsaussichten für Tunesien ein?
Kurzfristig nicht so gut. Die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage könnte die politische Stabilität ins Wanken bringen. Das Land steht zehn Jahre nach den Umbrüchen auf dem Höhepunkt eines Entfremdungsprozesses zwischen der Bevölkerung und der politischen Elite. Dieser könnte sich bald in landesweiten, heftigen Protesten äussern. Die Folgen der Pandemie werden diese Gefahr um einiges potenzieren. Mit Blick auf die fernere Zukunft bin ich aber eher optimistisch. Europa durchläuft gerade den Lernprozess, dass man sich nicht komplett von China abhängig machen sollte. Tunesien hat viele Trümpfe in der Hand, wenn es darum geht, Produktionsstandorte von China nach Nordafrika zu verlagern. Es könnte in den nächsten zehn Jahren seinen Platz im Bereich der Industrieproduktion bei den erneuerbaren Energien und den Dienstleistungen finden und so zu einem wichtigen Partner der EU am anderen Ufer des Mittelmeeres werden.
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