Claudia Mende

Journalistin, Dozentin, München

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Artikel

Zehn Jahre Arabellion: Die Knospen des Arabischen Frühlings

Es war wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Tsunami auslöst. Am 17. Dezember 2010 hat sich der Gemüsehändler Mohammed Bouaziz in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst verbrannt. Die Selbsttötung des 26-jährigenMannes, der sich von Polizei und Behörden schikaniert sah, führte zu Massenprotesten in der ganzen Region.

Zunächst in Tunesien, später in Ägypten, Libyen, Jemen und fast allen Ländern der Region gingen Tausende auf die Straß e, um gegen ihre jeweiligen Regime zu demonstrieren. Jahrzehntelang angestauter Unmut über autoritäre Gängelung, Korruption und Misswirtschaft brach sich Bahn.


Die Jordanierin Rawan Baybars war zu dem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Sie machte damals gerade ihren Uni-Abschluss im Fach Marketing und verfolgte die Proteste im Programm des Fernsehsenders Al Jazeera. Sie sah, wie Menschen ihrer Wut auf autoritäre Herrschaft Luft machten und nach Freiheit, Brot und Würde riefen. Baybars, die heute in Amman für das Rote Kreuz arbeitet, verfolgte auf dem Bildschirm, wie am 14. Januar 2011 in Tunis und nur einen Monat später in Kairo, im Jemen und danach auch in Libyen die Diktatoren stürzten, ihre Regime in sich zusammenfielen.

„Das war ein Wendepunkt in meinem Leben", sagt sie heute. „Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass bei uns vieles nicht in Ordnung ist, etwa dass es keine Bürgerrechte gibt. Das ist eben so, dachte ich, selbst wenn es furchtbar ist. Seit dem Arabischen Frühling weiß ich, dass sich Dinge ändern können."

Diese Erkenntnis gelte auch heute noch, findet sie, obwohl sich für viele Menschen zehn Jahre danach die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen verschlechtert haben. Sie selbst findet trotz guter Ausbildung und vielen Praktika nur befristete Anstellungen, immer wieder von Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen.

Ausnahme Tunesien

Die Hoffnungen auf eine schnelle Demokratisierung haben sich zerschlagen. Kaum eine

Erwartung der Protestbewegung hat sich erfüllt. Außer in Tunesien ist es nirgends gelungen, Bürger- und Freiheitsrechte umfassend zu etablieren.


In Ägypten wurde bei den ersten freien Wahlen der Muslimbruder Mohammed Mursi gewählt. Der offensichtlich überforderte Mursi stürzte das Land ins Chaos und wurde 2013 vom Militär gestürzt. Tausende seiner Anhänger wurden getötet. Seitdem ist die Repression im Lande schlimmer als zu Zeiten von Ex-Präsident Mubarak. Für die Zivilgesellschaft gibt es kaum Spielräume. Militärherrscher Abdel Fattah Al-Sisi will die Zeit zurückdrehen und jede Erinnerung an die Ereignisse vom Januar 2011 auslöschen.

In Syrien mündeten die Proteste in einen blutigen Bürgerkrieg, der von regionalen und internationalen Mächten zusätzlich befeuert wurde. Nach mehr als 500.000 Toten und Millionen von Vertriebenen ist Diktator Bashar al-Assad dank Unterstützung aus Russland und Iran weiterhin an der Macht.


Im Jemen brach nach dem Rücktritt von Langzeit-Präsident Ali Abdallah Saleh im Januar 2011 ebenfalls ein Bürgerkrieg aus. Auch dort ist der Konflikt vom geopolitischen Gegensatz zwischen Iran und Saudi-Arabien bestimmt. Leidtragende sind die Menschen im Jemen, wo sich die derzeit wohl größte humanitäre Katastrophe dieser Welt abspielt.

In Ländern wie Jordanien und Marokko gelang es den Machthabenden, mit kleineren politischen Zugeständnissen den Protest zu beruhigen. Am Golf wurden die Bürger mit mehr Geld ruhiggestellt - etwa durch Lohnerhöhungen für Staatsbedienstete.

Als einziges Erfolgsbeispiel gilt Tunesien, doch auch dort ist die Demokratie alles andere als gefestigt, Arbeitslosigkeit, ökonomischer Niedergang durch ausbleibende Urlauber und Staatsverschuldung bedrohen das kleine Mittelmeerland in seinen Grundfesten.

Strukturelle Änderungen benötigen Zeit


Ist der Arabische Frühling also gescheitert? Ist aus dem Frühling ein bitterer Winter geworden, wie es in vielen westlichen Medienberichten heißt?
Die Gründe für die Entwicklung sind zahlreich. Die zumeist jungen Aktivisten wussten zwar, wogegen sie antraten, hatten aber keine konkreten politischen Konzepte.

Jahrzehntelange Unterdrückung und fehlende Meinungsfreiheit hatten die offene Diskussion über politische Konzepte unmöglich gemacht. Zudem sind die Gesellschaften stark in säkulare und islamisch orientierte Strömungen gespalten. Während die islamischen Gruppen auf bereits bestehende Strukturen zurückgreifen konnten, war dies bei den säkularen politischen Kräften nicht der Fall. Sie waren daher bei Wahlen wie etwa in Ägypten im Nachteil.

 

 

Heute ist die Enttäuschung gerade bei jungen Menschen groß. „Die meisten meiner Freunde wollen nur noch weg,“ meint auch Rawan Baybars, „das ist wirklich traurig“.  Sie hielten den Zustand der Region für aussichtslos, für ein einziges Desaster.

Die Vorstellung eines raschen Wandels sei naiv gewesen. Strukturelle Änderungen benötigten viel mehr Zeit, sagt die Soziologin Rima Majed von der Amerikanischen Universität in Beirut. Man könne den Arabischen Frühling nicht nach ein paar Jahren schon beurteilen. Hundert Jahre habe es gedauert, bis die Ideale der französischen Revolution durchgesetzt waren. Sie wolle daher „nicht von einem Scheitern sprechen.“

Zumal die Proteste in der Region weitergehen, wenn auch teilweise unter dem Radar der westlichen Öffentlichkeit. 2011 war wohl nur der Auftakt für einen langandauernden Umbruch. In 2019 musste in Algerien Langzeitherrscher Bouteflika gehen, im Sudan nach 30 Jahren Herrschaft Omar al Bashir. Dort übernahm eine Übergangsregierung die Macht. In Nordmarokko opponiert die Hirak-Bewegung gegen die Vernachlässigung dieser ländlichen Gebiete.

Auch im Irak kommt es immer wieder zu lokalen Protesten gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und die schlechte Qualität öffentlicher Dienstleistungen. Genauso im Libanon, wo aufgrund von Schlamperei im Hafen ein Lager mit Ammoniak explodierte. Seitdem hat die politische Elite im Land auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit hat.

„Die Menschen haben gedacht, der arabische Frühling sei zu Ende,“ meint der palästinensische Wissenschaftler Marwan Muasher von der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung. „Doch das stimmt nicht. Wir sehen jetzt eine vielleicht reifere Phase der Protestbewegungen.“ Die Demonstranten hätten aus den Fehlern der ersten Protestwelle gelernt und ihre Forderungen „nach einem Ende der Korruption und nach guter Regierungsführung sind immer noch aktuell“.

Verbraucherboykott und friedliche Sit-Ins

Das sieht auch die libanesische Soziologin Rima Majed so. Es seien nach den Erfahrungen von 2011 neue Formen von Protest entstanden. „Wenn Menschen nicht auf die Straßen gehen, dann heißt das nicht, dass ihnen die Missstände gleichgültig sind,“ meint die libanesische Soziologin.

Der Protest wandelt sich. Das gilt nicht nur für den Libanon. In Marokko etwa haben Aktivisten das Instrument des Verbraucherboykotts entdeckt, um ihren Unmut auszudrücken. In 2018 riefen anonyme Netz-Aktivisten dazu auf, keine Produkte von solchen führenden Geschäftsleuten mehr zu kaufen, wie zum Beispiel Danone Joghurt. Daraufhin brach der Umsatz monatelang ein. Im Sudan saßen die Menschen teilweise wochenlang friedlich auf Straßen und Plätzen und weigerten sich, wegzugehen. Solche Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegungen weiterentwickeln.

 

Im Westen hat die Öffentlichkeit nach anfänglicher Euphorie für eine arabische Welt im Aufbruch das Interesse weitgehend verloren. Alte Stereotype über die arabische Welt kamen wieder zum Zug. Zu religiös, zu rückständig, eben doch anders seien die Region und ihre Menschen, lautet ein weit verbreitetes Urteil.

Der Westen setzt weiter auf Stabilität 

Dabei sollte der Westen seine eigene Rolle im Nahen Osten kritisch hinterfragen. Denn verbal haben Europa und die USA zwar stets demokratische Werte und Menschenrechte hochgehalten, ihre Politik läuft dem teilweise direkt zuwider. Mit Waffenlieferungen an Saudi-Arabien, Ägypten, Algerien oder die Vereinigten Arabischen Emirate  werden repressive Regime unterstützt und Konflikte weiter angeheizt.

Im Namen der Demokratie marschierten die USA 2003 in den Irak ein, stürzten Saddam Hussein und richteten ein Fiasko an. Als im Jahr 2013 der jetzige Militärmachthaber Ägyptens Al Sisi den demokratisch gewählten Präsidenten Mursi gewaltsam stürzte, gab es keine Sanktionen, stattdessen erhält Ägypten weiterhin Hilfen in Milliardenhöhe. Kein Wunder, dass das Wort “Demokratie” im Nahen Osten zwiespältige Gefühle hervorruft.  Zu oft ist es von westlichen Mächten benutzt worden, um eigene Interessen zu kaschieren. Denn im Zweifel setzt man lieber auf eine vermeintliche Stabilität statt auf eine echte Transformation hin zu mehr Demokratie.

Die jüngsten Proteste im Libanon haben gezeigt, dass Menschen weiterhin für ihr Recht auf ein würdiges Leben streiten. Die alten, autoritären, teils feudalen Strukturen tragen nicht mehr. Die Konturen einer neuen Ordnung sind noch nicht sichtbar. Es werde ein langer Weg sein bis zur Errichtung von rechtsstaatlichen Strukturen, meint Marwan Muasher. Die Corona-Krise und die Folgen des Klimawandels verschärfen bestehende Konflikte.

Und doch gibt es immer auch Menschen wie Rawan Baybars, die trotz widriger Umstände an eine Zukunft ihrer Heimat glauben und nicht einfach weggehen wollen. Sie sind die Hoffnung für eine bessere Zukunft.

Claudia Mende

© Qantara.de 2020




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