In der DDR waren Frauen Männern fast gleichgestellt, in der Medizin sind sie es ihnen bis heute nicht: Der Doku-Vierteiler HERstory betrachtet Geschichte aus einer weiblichen Perspektive.
In der DDR waren Frauen Männern fast gleichgestellt, in der Medizin sind sie es ihnen bis heute nicht: Der Doku-Vierteiler HERstory betrachtet Geschichte aus einer weiblichen Perspektive.
Von Clara Meyer
In einer Talkshow sitzt eine dauergewellte Moderatorin breitbeinig und kann nicht glauben, was ihr Gesprächspartner ihr gerade vor laufender Kamera versichern will: Eine Teilnahme von Frauen in der Bundeswehr wäre quasi undenkbar. "Na, da muss ja nun in unserem Lande ein Erdrutsch eintreten, und dieser Erdrutsch, den sehe ich überhaupt nicht", erklärt Hans Apel, Bundesverteidigungsminister im Jahr 1982, von dem die Szene stammt. Es ist eine von vielen Archivaufnahmen in dem Doku-Vierteiler HERstory, der die weibliche Sicht, die zumindest in Teilen der überlieferten Geschichte zu fehlen scheint, aufarbeitet. Und dabei so einiges richtig macht.
„Seit Jahrhunderten schreiben und deuten Männer Geschichte“, erklärt die glücklicherweise weibliche Off-Stimme. Frauen haben auch gekämpft, geforscht, gearbeitet, gelitten und werden trotzdem in heldenhaften Kriegsberichten oder sogar in medizinischen Studien außen vor gelassen. Daten und Fakten werden ignoriert, gar vertuscht. Geschichte von Männern verschmälert und für sie verschönert, „HIStory“ eben. Jede Folge erzählt die weibliche Wahrheit in einer eigenen Handschrift, abhängig vom jeweiligen Autorenteam. Es werden Gemeinsamkeiten (Folge 3: Wendeman(n)över) wie Unterschiede (Folge 1: Lebensgefahr) zwischen den Geschlechtern ausgearbeitet, und es wird über das Verhältnis von Frauen zur Berufstätigkeit (Folge 4: Frauenwunder) und über Amazoninnen, russische Kriegerinnen und Frauen in der Bundeswehr (Folge 2: Angriffslust) aufgeklärt. 20 Jahre nach der Talkshow gab es dann nämlich doch einen Erdrutsch: Das Grundgesetz wurde geändert, deutsche Frauen dürfen seitdem in den Krieg ziehen.
Die Gleichstellung in der DDR wurde nach der Wende in den westdeutschen Boden getrampelt
Für viele ein Grund, Korken knallen zu lassen; anders als für die meisten ostdeutschen Frauen der sonst so euphorisch dargestellte 9. November 1989. Denn die DDR war ein Land, das zumindest in puncto Gleichstellung deutlich weiter war als die BRD. Den ostdeutschen Bürgerinnen stand mit der Wende eine Zensur bevor: Die 90-prozentige Erwerbstätigkeit, die einst unter ihnen herrschte, sank rapide, als die gewohnte Gleichstellung nach der Wende in den westdeutschen Boden getrampelt wurde. Martina Grasser, erste und letzte Gleichstellungsbeauftragte der DDR, war machtlos. Ihr wird eine Frage gestellt, die Annalena Baerbock noch über 30 Jahre später beantworten muss. Wie könne sie ihre Tätigkeit mit Familie und Kindern vereinbaren?
Neun Jahre nach der Wiedervereinigung kann die Herzchirurgin Vera Regitz-Zagrosek beweisen, dass Frauen häufiger an Herzinfarkten sterben als Männer. „Das ist eine Frau, das verstehen wir nicht“, bügelt ein männlicher Kollege den vermeintlich so geheimnisvollen Tod einer Patientin ab. Auslöser war ein unerkannter Herzinfarkt, Männerkrankheit. Todesursache Sexismus. Die Erkenntnis, dass auch Arterien weiblicher Herzen verstopfen, könnte bis heute Tausenden Frauen das Leben retten. Doch Betroffene leiden unter mangelndem männlichen Interesse. Sie kommen in der Dokumentation zu Wort. So wie Frauen, die sich bei einem Autounfall ein Schleudertrauma zugezogen haben.
Längst weiß man, dass Frauen eine schwächere Nackenmuskulatur haben und daher Crashtests auch an weiblichen Dummys durchgeführt werden müssten, wie an „Eva“, entwickelt von der schwedischen Maschinenbauerin Astrid Linder. „Werden sie aber nicht“, bemängelt sie. Stattdessen schummelt der ADAC mit kleiner kalkulierten Männern. Männliche Mathematik dominiert. Wenn nicht tödlich, dann lästig: Selbst die Overalls für Arktisexpeditionen sind an die Pinkelbedürfnisse von Penissen angepasst. Und auch wenn Frauen mittlerweile in die Bundeswehr dürfen, gibt es nach wie vor Hürden: Die Pedale von Militärmaschinen sind für 65 Prozent der Frauen nicht mit den Füßen zu erreichen. Heißt wohl nicht ohne Grund Cockpit.
Die Zahlen bereiten Kopfschmerzen. Und das nicht, weil Frauen kein Mathe können. Oder weil sie ein sogenanntes „Pudding-Abitur” haben, wie die extra für Mädchen konstruierten Abschlussprüfungen in der Nachkriegszeit hießen. Damals wurde übrigens auch das Ehegattensplitting eingeführt (und nie wieder abgeschafft), um Frauen eine Erwerbstätigkeit möglichst unattraktiv erscheinen zu lassen. Ist denn, nur weil die Frau eine schwächere Nackenmuskulatur hat, auch ihr Arbeitswille schwächer? Um finanziell nicht in die Bredouille zu kommen, mussten viele Frauen trotzdem arbeiten, nebenbei den Haushalt schmeißen, alleine selbstverständlich. Die häufige Folge ist heute bekannt als Burn-out. Ein Gender Health Gap, der nach dem Krieg begann und in der Medizin immer noch zu spüren ist.
Sollte man Frauen und Männer anders behandeln, weil sie von Grund auf verschieden sind?
In jeder Folge des Doku-Vierteilers HERstory kommen Protagonistinnen zu Wort. Sie sind sympathisch, egal ob Oberärztin, Aktivistin oder Franziska Giffey. Dazu gibt es Originalaufnahmen aus der jeweiligen Zeit. Aufbereitete Sequenzen, mal farbenfroh, mal schwarz-weiß, untermalt mit der richtigen Musik und den noch richtigeren Worten. Fakten, Zahlen, Zitate. Und immer wieder Betroffene des jeweiligen blinden Flecks der Geschichte im Porträt, von der Kamera in die Bildmitte gerückt, nicht an den Rand wie sonst in den Geschichtsbüchern.
Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Das regt zum Denken an, zum In-Rage-Reden im positiven Sinne. Sollte man Frauen und Männer jetzt anders behandeln, weil sie von Grund auf verschieden sind? Oder wurden sie nur anders sozialisiert? Die Muskulatur anders, der Mensch der gleiche? Ihr Herz mag kleiner sein, aber schlägt es unter der zwar dünneren Haut, aber der gleichen tarnfarbenen Militäruniform wirklich in einem anderen Takt? Sind im Krieg die Waffen einer Frau andere als die eines Mannes? „Wenn mehr Frauen dabei sind, kriegt man auch mehr Sichtweisen“, erklärt Hauptmann Julia Schulze. Aber mehr Sichtweisen, weil weibliche Sichtweisen? Oder eben weil schlichtweg eine breitere Masse der Gesellschaft abgebildet wird? Ohne die Hälfte einfach auszuklammern. Dass in einer Episode der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern beteuert, in der nächsten aber die Gleichheit gepredigt wird, ist nicht etwa eine Unstimmigkeit. Es zeigt nur, wie komplex das Thema ist.
Einiges ist längst bekannt. Natürlich weiß man, dass Frauen früher vieles gar nicht oder nur mit ehemännlicher Erlaubnis durften. Dass die DDR aufgrund ihrer Ideologie gezwungenermaßen weiter war und kein „Paradies für Frauen“, wie es Bundestagsmitglied Anke Domscheit-Berg (Die Linke) noch mal erklärt. Trotzdem ist man nach den vier Folgen schlauer. Das Narrativ ist so sinnvoll gestrickt, dass man gar nicht anders kann, als der locker-leichten Off-Stimme zuzuhören. Während sie Fakten vorträgt, die einen vor Zorn ins Sofakissen krallen lassen sollten, klingt ein bittersüßer Sarkasmus mit, der einen stattdessen schmunzeln lässt. Herrlich.
HERstory schockiert, HERstory unterhält. Es ist dabei keine oberlehrerhafte Erklärung, wo Frauen überall benachteiligt sind, was man alles anders machen muss. Es ist einfach eine starke Darstellung von genauso starken weiblichen Vorbildern. So vorbildlich, wie es die Autoren für gutes Fernsehen sind, egal ob Julia Friedrichs (Lebensgefahr) oder Sabine Michel (Wendeman(n)över). Natürlich, es ist auch guter Feminismus. Aber vor allen Dingen ist es richtig gutes Fernsehen.
Nur einen kleinen Kritikpunkt nach all dem wohlverdienten Lob gäbe es doch noch: Liebe ARD, sendet so eine Sendung beim nächsten Mal doch bitte zur Primetime. Sie verdient es, viel mehr gesehen zu werden.
HERstory, alle Folgen in der ARD-Mediathek.
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