Weit zu verreisen, ist gerade nicht möglich. Dabei ist das Bedürfnis, den Alltag hinter sich zu lassen in diesem Jahr besonders groß. Unser Schwerpunkt "Kleine Ferien" handelt davon, wie man sein Fernweh trotzdem lindert. In der Corona-Krise gelingt das nicht jedem, wie dieses Porträt über einen Couchsurfer im Westjordanland zeigt.
"Corona, Corona!" Seit einiger Zeit rufen die Nachbarskinder Mo das auf der Straße nach. "Corona, geh nach Hause!"
Für sie ist Mo ein Ausländer, einer, der das Coronavirus nach Hebron bringt. Dabei ist er in dieser Stadt im palästinensischen Westjordanland geboren. Die meisten seiner 38 Lebensjahre hat er hier verbracht. Arabisch ist seine Muttersprache.
Aber Mo lässt die Kinder in dem Glauben. Er läuft an ihnen vorbei und zeigt nicht, dass er sie verstehen kann. Beim Einkaufen macht er es ähnlich. Spricht ihn jemand im Geschäft oder auf der Straße auf Englisch an, antwortet er auch auf Englisch.
Mo hat eine Pufferzone zu den Menschen um sich herum errichtet. ist eine der konservativsten Städte Palästinas, die Bewohner legen die Regeln des Islam hier sehr streng aus. Mo will ihrem ständigen Urteil entgehen. Sie sollen gar nicht so genau mitbekommen, wie sein Leben aussieht. Denn es ist anders.
Wäre gerade alles so wie immer, dann wäre seine Wohnung jetzt voller Reisender aus der Schweiz, aus Australien, aus Russland, aus Deutschland. Sie würden am Ecktisch in der Küche sitzen und Hummus, Oliven und Baba Ghanoush teilen - und Bier trinken, das Mo aus Bethlehem besorgt hat, wo das Alkoholverbot nachlässiger gehandhabt wird als in Hebron. Sie würden mit Mo über die Scharia und Frauenrechte im Islam diskutieren und sich gegenseitig Songs auf dem Computer vorspielen. Und sich irgendwann in Mos zweitem Zimmer auf dünnen Matratzen schlafen legen, eingewickelt in Wolldecken und Schlafsäcke.
Clara Hellner
war vor drei Jahren selbst bei Mo in Hebron zu Gast. Gemeinsam mit anderen Couchsurfern fuhren sie ans tote Meer und tanzten auf der Abschlussparty des palästinensischen Marathons. Letztes Jahr hat sie ihn wiedergesehen: bei einem seiner Berlin-Besuche auf dem Tempelhofer Feld.
Manche von ihnen schreiben Mo Wochen vorher eine Nachricht, ob sie zu ihm kommen können, andere erst wenige Stunden. Sie bleiben für mehrere Tage oder nur eine Nacht. Das ist das Prinzip der Plattform Couchsurfing. Und diese Plattform, diese Menschen - sie sind Mos Fenster zur Welt. In seinem Profil schreibt er: "Wenn du nicht reisen kannst, hol das Reisen zu dir."
Als Mo das Reisen und das Leben fern von Hebron für sich entdeckt, ist er achtzehn Jahre alt. Er bekommt ein Stipendium, studiert Ingenieurwissenschaften in Bagdad. Zum ersten Mal ist er frei, fern von der Kontrolle seiner konservativen Familie. Seine Kommilitonen sind anders als alle Menschen, die er bisher kannte: Sie kommen aus Marokko, Syrien, Tunesien, diskutieren über Politik, kritisieren den Islam, Machthaber und Regierungen, treffen sich abends zum Biertrinken. Erst ist er schockiert. Dann beginnt er, das Leben mit diesen Menschen zu genießen. Und die Regeln und Glaubenssätze seiner Kindheit und Jugend infrage zu stellen.