Ein schwerer roter Vorhang vor der Eingangstür zum Schutz vor der Hamburger Kälte, Wintermäntel an einem Garderobenständer, zwei bunte Sofas, leise Musik, Bistrotische, eine Kaffeemaschine röhrt. An der Wand hängen bunt gerahmte Kunstfotografien und eine große Stadtteilkarte, auf dem Tresen liegen neben einer Vase mit roten Kunstblumen Flyer für Deutschkurse, Rechtsberatung, den Fußballverein. Wären da nicht das ständig klingelnde Telefon, die Patienten, die Rezepte abholen und ihre Krankenkassenkarten bringen, und seit Anfang März die hustenden und schnupfenden Wartenden draußen auf dem Hof, man würde wohl nicht darauf kommen, dass das hier eine Art Arztpraxis ist: das Stadtteilgesundheitszentrum Veddel.
Draußen, vor dem flachen, typischen Hamburger Backsteinbau, wartet der Arzt Philipp Dickel in dickem Wollmantel und Trainingshosen. Er führt über die Hamburger Veddel, diesen kleinen Fetzen Land, eingerahmt von Elbwasser, der Autobahn und Dutzenden Gleisen. Es geht am Ufer entlang, durch Reihen eng nebeneinander gebauter Backsteinblocks, im Hintergrund sieht man die Hafenindustrie, die Lagerhallen und Containerstapel. Man hört Containerzüge rattern und die Autobahn rauschen. Nur wenige Kilometer, aber ganze Welten trennen die Veddel von den Hamburger Villenvierteln.
Die Menschen hier sind kränker als andere Hamburger - das belegen die Zahlen des Hamburger Morbiditätsatlas eindeutig. Die Kinder, die aus der Stadtteilschule strömen, fangen sich besonders häufig Infekte wie eine Bronchitis ein. Die Männer, die vor den überfüllten Shisha-Cafés sitzen, und die alte Frau auf der Parkbank treffen Diabetes, Herzprobleme, Bluthochdruck und psychische Erkrankungen häufiger als andere Menschen in Hamburg. Es sind Unterschiede, die keinesfalls klein sind - ganz im Gegenteil. Eine Auswertung von Krankenkassendaten der AOK Hamburg - der nach eigenen Angaben zweitgrößten Krankenkasse der Stadt - zeigt, welches Ausmaß Gesundheitsungleichheiten in Hamburg annehmen: Ganze zehn Jahre leben die Veddeler kürzer als Bewohner des Hamburger Reichenviertels Blankenese, 15 Jahre weniger als Menschen aus Poppenbüttel im reichen Hamburger Norden.
Kranksein als extremer Ausdruck sozialer UngleichheitDie Veddel, wo die Löhne niedrig sind, die Arbeitslosenzahlen hoch und die Wurzeln der Menschen vielfältig ( Statistikamt Nord, 2018), ist ein Extrembeispiel für etwas, das Medizinerinnen und Soziologen schon lange beschäftigt: den gewaltigen Einfluss des Sozialen auf die Gesundheit. Menschen ohne festen Job haben in Deutschland zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens ein doppelt so hohes Risiko zu sterben wie der Rest (BMJ: Grigoriev et al., 2019). Zwischen der Lebenserwartung von Höchst- und Niedrigverdienern liegen in Deutschland bei Frauen viereinhalb, bei Männern achteinhalb Jahre (Journal of Health Monitoring: Lampert et al., 2019). "Für mich ist das der extremste Ausdruck sozialer Ungleichheit", sagt Thomas Lampert, der am Robert Koch-Institut derartige Daten sammelt.
Von diesen Ungleichheiten erzählt auch Philipp Dickel, während er im Hamburger Schmuddelwetter durch das Viertel führt. Kaum auszuhalten sei das, sagt er, zurückgekehrt in die Poliklinik, am großen Tisch im Dachgeschoss sitzend, immer wieder.
Viele der zwei Dutzend Ärztinnen und Ärzten, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und der losen Gruppe von Ehrenamtlichen, die in der Poliklinik arbeiten, kennt Dickel schon lange. Von der Hamburger Organisation Medibüro zum Beispiel, wo sie während des Studiums dringend gebrauchte Arzttermine und Operationen an Menschen ohne Versicherung oder Aufenthaltsberechtigung vermittelten. Andere engagierten sich in der Drogenhilfe oder als Hausarzt in Brennpunktvierteln. Sie alle erlebten, wie krank diejenigen sind, denen Ausgrenzung und Armut zusetzen - oft trotz gesetzlicher Krankenkassen und Sozialleistungen. Lange dachten sie darüber nach, wie man das ändern könne.