Berlin. Eigentlich hätten Sonia T. aus Essen und ihre sechsjährige Tochter schon zurück in Deutschland sein sollen. Ihr Flug aus Kabul war für Sonntag geplant; sie hatten bereits ihre Tickets. Doch dann kamen die Taliban. Und mit ihnen die Panik.
Alle Straßen seien am Sonntag leer gewesen. „Und dann habe ich gesehen: "Ganz" Afghanistan ist am Flughafen", erzählt T. per Sprachnachricht. Nur habe kein Airport-Mitarbeiter mehr gearbeitet. Es habe keine Checkpoints mehr gegeben. Jeder sei einfach hereingekommen. Einige hätten Computer und andere Einrichtung aus Wut zerstört. Und: „Alle hatten Angst vor den Taliban."
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Die radikalen Islamisten hatten am Sonntag faktisch wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Nach dem Abzug der internationalen Truppen überrannten sie allein in der vergangenen Woche etliche Städte und eroberten schließlich auch Kabul - kampflos. Die 20 Jahre lang von den westlichen Bündnispartnern ausgebildete afghanische Armee hatte sich vielerorts nicht gewehrt. Präsident Aschraf Ghani flüchtete noch am Sonntag außer Landes.
Montagnacht? „Überaus chaotisch"
Die Bundesregierung versucht seit Sonntagnacht deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte zu evakuieren. Sie vor den Taliban zu retten. Doch als Montagnacht der erste Flieger der Bundeswehr nach stundenlangem Kreisen endlich landen kann, gelangen lediglich sieben Personen an Bord. Die Situation sei Montagnacht "überaus chaotisch gewesen", sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Dienstag.
Die Lage sei schwer zu kontrollieren gewesen. „Die Amerikaner haben lange gebraucht, um das Rollfeld von Personen zu befreien, damit dort überhaupt Flugzeuge landen konnten." Und während der Flieger am Boden war, seien dann nur sieben Personen vor Ort gewesen, die für eine Evakuierung vorgesehen waren.
Sonia T. ist nicht darunter. Die Zahnarzthelferin ist am Dienstagmorgen noch immer im Haus ihrer Eltern in Kabul. Um 10 Uhr bekommt sie eine Nachricht von der deutschen Botschaft. Sie solle heute zum Nordgate des Flughafens kommen, dann könne sie mit ihrer Tochter das Land verlassen.
Doch wie hinkommen? Ringsum den Flughafen sind Kämpfer der Taliban. Noch dazu, sagt sie, dürften Frauen zurzeit nicht ohne Mann mit dem Taxi fahren. Sie sucht einen Fahrer und fleht ihn an: „Bitte nehmen Sie mich mit, und sagen Sie, ich sei Ihre Schwester." Der Mann verlangt Geld. 600 Afghani - umgerechnet rund sechs Euro. Sie bezahlt. Er bringt sie zum Flughafen. Doch, erzählt sie, dort seien lauter Taliban-Kämpfer gewesen. Die hätten sie gefragt: „Wo ist dein Mann?" - und ihr gesagt, der Flughafen sei geschlossen. Sie solle gehen.
T. hat furchtbare Angst. Ein anderer Taxifahrer sagt ihr schließlich, sie solle zur anderen Seite des Flughafens gehen. „Aber die andere Seite war weit weg, und ich hatte keinen Afghani mehr." Der Taxifahrer sieht ihr Kind und fährt sie - ohne Geld zu nehmen. Als sie am anderen Ende des Flughafens ankommt, herrscht Chaos. Und inmitten der Menschenmenge verletzt sich ihre Tochter am Fuß.
T. ist nun auf der Nordseite des Flughafens angelangt. Doch es gibt zwei Nordgates. Sie trifft auf afghanische Sicherheitskräfte. „Die waren auch schlimm", sagt sie. Sie hätten ihr gesagt, sie solle weggehen. Flüge nach Deutschland gebe es nicht.
Dann sieht sie Soldaten der Bundeswehr. Sie wedelt mit dem deutschen Pass ihrer Tochter und ruft, dass sie einen deutschen Aufenthaltstitel habe und ihre Tochter Deutsche sei. Die Soldaten sehen sie und lassen sie ins Nordgate. Sofort schmeißt ihre Tochter das Kopftuch, das sie tragen musste, auf den Boden, erzählt T.. „Das war so ein schöner Moment."
Die deutschen Soldaten seien sehr freundlich gewesen. „Die haben uns gefragt, ob wir Wasser trinken möchten und was wir brauchen. Ich war durstig wie ein Hund", sagt sie. Und sie hätten Schokolade bekommen.
Dass T. überhaupt in Afghanistan war, hängt mit ihrer Mutter zusammen. Diese habe Brustkrebs gehabt und eine Operation benötigt. Immer wieder habe T. Geld nach Afghanistan geschickt. Doch nie sei es im Krankenhaus angekommen. Niemand habe ihrer Mutter geholfen. „Ich wusste, Afghanistan ist gefährlich und mein Kind ist deutsch, und ich bin eine Frau und geschieden, aber ich liebe meine Mama", sagt sie. Und diese sei sehr, sehr krank gewesen. Deshalb habe sie entschieden, trotzdem nach Kabul zu fliegen. Und habe schließlich drei Monate bleiben müssen.
Nun scheint sie gerettet. Zwar saß sie noch nicht im zweiten Transportflugzeug, das am Dienstagnachmittag 129 Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent brachte. Doch am späten Dienstagabend war auch sie auf dem Weg dorthin, um dann weiter nach Deutschland zu gelangen.
„Ich habe so viele schlimme Sachen erlebt. Ich möchte die Taliban nie wieder sehen", sagte T. zuvor. Das alles tue ihr so leid für ihr Kind. Sie habe so viel Angst um ihre Tochter gehabt, weil diese keine Muslimin sei. „Aber jetzt ist Gott sei Dank alles vorbei."