Making-Of-Interview mit SPIEGEL-Redakteur Thilo Neumann über seine Begegnung mit Basketball-Star Dirk Nowitzki, zuerst erschienen in der digitalen Ausgabe.
Es ist eines der wichtigsten Saisonspiele. DJK Würzburg steht im März 1998 kurz vorm Aufstieg in die erste Basketball-Bundesliga. Ein Sieg muss her in der Relegation gegen SSV Weißenfels. Doch der mit Abstand beste Spieler fehlt unentschuldigt. Wo steckt Dirk Nowitzki?
Er ist auf der anderen Seite der Welt, nicht mal seinem Vater hat der 19-Jährige etwas gesagt. Sogar er selbst hatte zunächst keinen Schimmer von der Tour Richtung Texas. Denn geplant hat das alles Holger Geschwindner, Dirks Mentor und Individualtrainer. "Ich bin abends zu ihm hin und habe gesagt: Morgen früh fliegen wir beide nach Amerika", erzählt er. Dirk wollte die Mannschaft nicht im Stich lassen. Seine Reaktion: "Was soll das denn?!" Dann überzeugte Geschwindner ihn doch von der Geheimmission.
Eingeweiht hatte Geschwindner nur Dirks Mutter ("Sie war nicht dafür, aber sie trug es mit") und Mitspieler Robert Garrett: "Sonst hätte die ganze Aktion leicht boykottiert werden können. Daher mussten wir das unter dem Deckmäntelchen machen." Auf keinen Fall sollte die Würzburger Vereinsführung die USA-Reise verbieten - immerhin ging es um den Aufstieg. "Da kam der wirklich frühmorgens um 6 daher und hat Dirk abgeholt. Wir sind natürlich aus allen Wolken gefallen", erzählt Vater Jörg Nowitzki in der Doku "Der perfekte Wurf" lachend. "Das war Geschwindner live."
"Einmal vorspielen - dann aber richtig"
Das deutsche Duo tauchte tief ein in die "March Madness". Der März ist in den USA der Basketballmonat schlechthin. Wenn die Collegeteams ihren Meister ausspielen, fiebert die Nation mit. Das Final Four - Halbfinals und Finale - findet 1998 in San Antonio statt. Im Rahmenprogramm messen sich die besten High-School-Spieler der USA beim "Nike Hoop Summit" mit einer Weltauswahl, vor den Augen von Talentsichtern der Profiliga NBA. Und Dirk Nowitzki ist in Texas dabei.
"Wir wollten nicht über die Dörfer ziehen, sondern einmal vorspielen - dann aber richtig", sagt Geschwindner. "Es ist die größte Chance, mit einem einzigen Spiel auf sich aufmerksam zu machen." Hat Nowitzki das Potenzial für die weltbeste Basketballliga? Zu Hause in Deutschland trauen ihm das nicht alle zu.
Dass Nowitzki überhaupt eingeladen wurde, verdankt er vor allem Geschwindner, der mit den Veranstaltern verhandelt, Flugtickets besorgt und einen Schlachtplan entwickelt hat. Der frühere Nationalspieler ist ein Stratege mit Hang zum Unkonventionellen und mit pädagogischem Geschick: geradeaus, kauzig, meinungsstark. Geschwindner hatte Dirk als scheuen 16-Jährigen in Schweinfurt erstmals gesehen und angeboten, mit ihm zu trainieren. Dirk willigte ein.
Es war der Beginn einer außergewöhnlichen Spieler-Trainer-Verbindung. Hier ein blutjunger, 2,13 Meter langer Rohdiamant mit Bewegungstalent und besonderem Wurfgefühl. Dort ein älterer Mann im Karohemd mit Faible für Naturwissenschaften, Jazz und den perfekten Wurf.
Dribblings zum Live-Saxophon
Geschwindner hat Großes vor. Manche halten ihn für einen Spinner, seine Trainingsmethoden für bizarr. So lässt er seine Spieler im Rhythmus der Musik dribbeln, während ein Freund live Saxophon in der Halle spielt. Die Spieler aber können gut mit "Hotsch". "Entscheidungen von Holger haben wir nie angezweifelt", sagt Robert Garrett, einer von Würzburgs "jungen Wilden".
Am 29. März 1998 soll Nowitzki sein wichtigstes Spiel bestreiten und steht in der Startaufstellung des Weltteams in San Antonio. Die TV-Kommentatoren ziehen Vergleiche mit Detlef Schrempf - als bis dahin einziger Deutscher konnte "Det the Threat" in der NBA Fuß fassen.
Das Spiel beginnt mit zwei schnellen Ballverlusten der Weltauswahl, zwei Dunkings der Amerikaner. Die schnellen, athletischen High-School-Spieler scheinen überlegen. Beim Stand von 10:4 für die USA setzt Nowitzki die erste Duftmarke: Auf der rechten Angriffsseite zieht er mit zwei Dribblings am Gegenspieler vorbei und steigt hoch zum Dunking - den er verfehlt. Foul.
Ein Raunen geht durch die Arena: Die Szene lässt erahnen, was in diesem langen Deutschen steckt. Nowitzkis Bewegungsabläufe sehen so geschmeidig aus wie die eines viel kleineren Spielers. Das fällt auf. Und jetzt drängt dieser "7-Footer" zum Korb und versucht auch noch, den Ball mit Wucht durch den Ring zu hauen - diese Einstellung imponiert den Amerikanern. Noch herrscht das Vorurteil, internationale Spieler seien zu "soft" für den oft knüppelharten US-Basketball.
Trainer Geschwindner hatte gar keinen Zugang zur Arena, nicht mal einen Sitzplatz in den Zuschauerrängen. Doch George Raveling, sein Ansprechpartner bei Nike, stellte ihm kurzerhand einen Stuhl neben die Spielerbank. Perfekter Platz für Zurufe. "Der Trainer der Weltauswahl war genervt. 'Don't talk to the players!', musste ich mir von ihm anhören", sagt Geschwindner lachend. Sein Plan geht auf. "Nimm die Pille, zieh durch und ramm das Ding da oben rein, und wenn sie dich umhacken, musst du weitermachen. Schneid abkaufen gilt nicht." So lautete die Devise. Und so tritt die Nummer 15 der Weltauswahl auf.
Nowitzki kennt nur eine Richtung - zum Korb. Die US-Spieler sind sichtlich überfordert mit dem beweglichen, treffsicheren Lulatsch. Die meisten Gegenspieler dieser Größenordnung agieren eher langsam und körperbetont unter dem Ring. Doch dieser Typ schießt oft von außen oder zieht mit Tempo durch. Also foulen sie Nowitzki bei fast jeder Aktion. Nützt aber nichts.
Der ganz große Wurf
Auch an der Freiwurflinie beeindruckt Nowitzki die NBA-Scouts. Sein Wurfgefühl ist unfassbar gut. Am Ende des Spiels wird Nowitzki 19 von 23 Freiwürfen versenkt haben, eine ausgezeichnete Trefferquote und zudem eine immense Anzahl an Freiwürfen. Zum Vergleich: In der aktuellen Saison - mit jetzt 39 Jahren - geht Nowitzki im Schnitt nur 1,5 Mal pro Spiel an die Freiwurflinie.
Zur Halbzeit führt die Weltauswahl mit drei Punkten. Ein hartes Spiel, bei dem sich die jungen Basketballer nichts schenken. Viele spielen hier um ihre Zukunft. Damals durften High-School-Spieler noch direkt in die NBA wechseln. Das geht heute nicht mehr ohne mindestens ein Basketballjahr im College.
Nowitzki dominiert zusehends und zeigt seine Vielseitigkeit: Er wirft Dreier, scheut keinen Körperkontakt, dribbelt von "Coast to Coast", also aus der eigenen Hälfte bis zum Abschluss - was Spieler seiner Länge fast nie tun ( hier im Video). In den Schlussminuten steht Nowitzki ständig an der Freiwurflinie. Am Ende gewinnt die Weltauswahl mit 104:99.
Nowitzki wird zum MVP ernannt, zum wertvollsten Spieler: Er bricht mit seinem Auftritt etliche Individualrekorde, 33 Punkte und 14 Rebounds stehen auf dem Statistikzettel. Auf der US-Seite müssen gleich fünf Spieler wegen zu vielen Fouls vorzeitig vom Feld, sehr ungewöhnlich. Nowitzki gibt nach dem Spiel sein erstes TV-Interview auf Englisch - diese Performance nannte er später "bestenfalls grausam".
"Unsere Überlegungen haben ganz gut funktioniert", sagt Geschwindner trocken. Kein Grund, gleich abzuheben: "Dirk hatte ein super Spiel, aber wenn du beim Hoop Summit ein paar Rekorde brichst, heißt das noch lange nicht, dass du in der NBA bestehen kannst. Das ist eine ganz andere Nummer. Wir sind ja dann auch artig wieder nach Hause gefahren und haben 2. Liga gespielt." Nowitzki ist der ganze Trubel unangenehm. "Danach war die Hölle los", erzählt er im Buch "Nowitzki". "Die Reporter der Fernsehsender, die Scouts von den Colleges und aus der NBA - alle waren plötzlich zur Stelle, und ich stand im Mittelpunkt. Dabei wollte ich nichts wie heim nach Würzburg."
Vom "German Wunderkind" zur "Mumie"
Dort erwartet Geschwindner ein Donnerwetter - "man hat uns richtig verprügelt. Ich war der Jugendverderber und er der Egoist, der seine Mannschaft im Stich gelassen hat". Da half auch die US-Tageszeitung nicht, die Geschwindner quasi als Entschuldigung mitgebracht hatte, Titelzeile "Junger Deutscher überrennt US-Boys". Geschwindner: "Jetzt nach 20 Jahren erzählt es sich leicht, aber damals haben wir Blut und Wasser geschwitzt."
Robert Garrett, der Eingeweihte im Team, erinnert sich an keine großen Anschuldigungen. "Klar haben alle verdutzt geguckt, als Dirk nicht auftauchte. Aber wir hatten eine gute Mannschaft und wussten, dass wir auch so gewinnen können - was wir auch getan haben." Alles halb so wild, fanden zumindest seine Mitspieler. "Wir wussten: So eine Chance darfst du dir nicht entgehen lassen." Dass Nowitzki so einen Sensationsauftritt abliefern würde, überraschte das Würzburger Team nicht. "Uns war relativ klar, dass er sich gut schlagen würde, so dominant wie er war. Und hier hat er gegen richtige Männer gespielt, drüben nur gegen High-School-Kinder."
SPIEGEL-Redakteur Thilo Neumann über seine Begegnung mit Dirk Nowitzki: "Gefeiert wie ein Halbgott"
Das Spiel in Texas hinterließ jedenfalls den gewünschten Effekt. "Wir waren noch gar nicht richtig zu Hause angekommen, da haben die Glocken an allen Stellen gebimmelt", sagt Geschwindner. US-Colleges, Top-Vereine wie Berlin, Leverkusen, Barcelona oder Bologna - alle wollten das Supertalent verpflichten. NBA-Klubs zeigten Interesse.
Beim Draft im Juni 1998, einer NBA-Rechtevergabe, wurde Nowitzki an neunter Stelle von den Milwaukee Bucks gezogen. Nach einem Spielertausch ging er zu den Mavericks nach Dallas, wo er 2011 die Meisterschaft gewann und noch heute spielt. Die Stadt will ihm sogar eine Statue errichten. Holger Geschwindner ist immer noch sein persönlicher Trainer.
Statt "The German Wunderkind" nennen Mavericks-Fans ihren Supergreis, inzwischen 39 Jahre alt, jetzt liebevoll "The Big Mummy", weil er bisweilen hüftsteif wirkt und mit Tape und Verbandsmull an eine Mumie erinnert. Wenn die Knochen halten, will er noch ein Jahr dranhängen. Oder sogar zwei. "Der Wille zu beißen, es den Jungs zu zeigen, ist noch da", sagt er im SPIEGEL-Interview und beschreibt seine Karriere als "surreal". "Vor allem, wenn man überlegt, wie das alles angefangen hat damals in Würzburg. Dieser lange, dünne Typ aus einer kleinen deutschen Stadt. Ist doch Wahnsinn."
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