Paul Stanley trinkt einen Schluck. Mit dem Strohhalm natürlich, damit die Schminke nicht verschmiert. Der Mann ist Profi. Er stellt den Becher wieder ab - so, dass er in Reichweite, aber gerade nicht im Bild ist. „Drei, zwei, eins", sagt der Fotograf. Klick. Es blitzt. Zwei selig grinsende KISS-Fans werden weggeführt, zwei neue vor der Band postiert. Drei, zwei, eins, klick. Seit über zwei Stunden stehen Paul Stanley und seine Bandkollegen schon hier und machen Fotos. 672 werden es heute, morgen noch einmal 376. Jeder hier an Bord der „Norwegian Pearl" soll am Ende ein Beweisbild mit seinen Helden haben. Mit Paul Stanley alias „Starchild" und mit Gene „the Demon" Simmons, mit Eric Singer alias „Catman" und Tommy Thayer in Kostüm und Maske des „Spaceman".
KISS, dieses Jahr seit genau 40 Jahren im Musikgeschäft, sind die Könige des boomenden Geschäfts der Rock'n'Roll-Kreuzfahrten. Zum dritten Mal veranstalten sie die KISS Kruise - über 2500 Fans aus 33 Ländern sind an Bord. 74 kommen aus Deutschland, zwei aus Qatar, einer aus Bolivien. Das Beeindruckendste: Über ein Viertel der Passagiere ist schon zum zweiten oder ein weiteres Viertel sogar schon zum dritten Mal dabei. Von solchen Rückkehrquoten können andere Reiseveranstalter nur träumen. Dabei ist die jährlich zu Halloween stattfindende Spaß nicht billig: Die günstigsten Zweierkabinen kosten rund 1000 US-Dollar pro Person. Will man ein Fenster und seinen Rausch nicht in klaustrophobischer Enge ausschlafen, zahlt man 1500 Dollar, für eine Suite 4000. Dazu kommen Extras wie Landausflüge, eine vorgeschriebene Trinkgeldpauschale und alkoholische Getränke.
Und die sind neben KISS das Zweitwichtigste auf diesem Schiff. Wer keinen Drink in der Hand hat, bekommt im 30-Sekunden-Takt vom Personal Bier oder Tequila angeboten. Bereits am ersten Tag wankt eine Gruppe Kanadier, halbnackt und ihre Landesflagge schwenkend über das Sonnendeck. Als einer von ihnen - die nackte Haut so rot wie das Ahornblatt auf der Fahne - aus dem Gleichgewicht gerät, beschwert er sich über den Seegang und hält sich an der Reling fest. Dahinter liegt jedoch nach wie vor der Hafen von Miami. Die „Norwegian Pearl" wird erst in ein paar Stunden ablegen, wenn KISS als letzte Passagiere an Bord gegangen sind und alle die obligatorische Sicherheitsübung mitgemacht haben. Bei dieser fällt einer, der ebenfalls früh mit dem Trinken angefangen hat, die Treppe zum Essenssaal herunter - verschüttet dabei aber wie durch ein Wunder nichts von seinem Bier.
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