Herr X., ein Mann, der seine schriftstellerische Karriere mit dem Verfassen von Schreibratgebern begonnen, mit einem Regionalkrimi gekrönt und mit fast fünfhundert Amazon-Rezensionen flankierend gesichert hatte, wich keinen Zentimeter: „Das Buch ist kafkaesk!" Zitternd vor Entschlossenheit stand das Urteil im Raum, der sich im Schloss Wolfenbüttel befand, wo angehende Journalisten, Schriftsteller und andere leidenschaftliche Leser über Literaturkritik diskutierten.
Das Buch, um dessen Kafka-Haltigkeit gestritten wurde, war die damals neu erschienene „Verteidigung der Missionarsstellung" von Wolf Haas. Ein postmodernes Verwirrspiel mit allerhand typographischen Spielereien, Fiktionsironie und miteinander verschränkten Erzählebenen. Es ist: recht albern, bei genauem Hinsehen nicht sonderlich innovativ, alles in allem ganz nett. Ganz sicher aber ist es nicht: kafkaesk.
Kafkaesk, so lässt es sich beim Kafka-Forscher Thomas Anz nachlesen, war zunächst einmal ein Text, der der Art Kafkas glich. Was man unter der „Art Kafkas" verstand, lässt sich am allmählichen Bedeutungswandel des Wortes ablesen: Außer Texten wurden bald auch Situationen und „diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung" damit beschrieben.
Heute heißt kafkaesk "irgendwas, was ich nicht genau verstanden habe"
Kafkaesk meinte das „Ausgeliefertsein an unbegreifliche, anonyme, bürokratisch organisierte Mächte, die Konfrontation mit Terror, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit". Ein Gefühl, das wir heute mit Akronymen wie NSA oder Prism umschreiben, aber weiterhin nur mit dem Adjektiv „kafkaesk" bezeichnen können. Auch der Duden kennt „kafkaesk" seit 1973 zur Beschreibung von etwas, das „auf unergründliche Weise bedrohlich" ist.
Dass Herr X. das Buch von Wolf Haas, das rein gar nichts Bedrohliches hat, als „kafkaesk" bezeichnete, deutet auf einen weiteren Bedeutungswandel hin: Es meint „irgendetwas, was ich nicht genau verstanden habe".
In dieser Bedeutung wird das Adjektiv immer wichtiger. Es ist so unentbehrlich geworden wie „poetisch" (was „irgendwie schön" bedeutet) und „ironisch" („irgendwie witzig"). Allein mit diesen drei Worten lässt sich schon eine Menge machen. „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran": poetisch. „Warten auf Godot": kafkaesk und ironisch. Alles von Max Goldt: ironisch und poetisch, manchmal kafkaesk. „Der kleine Prinz": poetisch.
Wie kafkaek ist der kleine Prinz?
Dass man den kleinen Prinzen vielleicht auch nicht so genau versteht, macht im Übrigen den Einsatz von „kafkaesk" noch nicht zwingend notwendig. Denn wenn es ein Buch geschafft hat, seine Sätze wie Metastasen in Poesiealben, Liebes-SMS und Facebook-Timelines zu streuen, und es weltweit auf Standesämtern als Ersatzbibel zitiert wird, muss man es nicht mehr verstehen.
Für alle anderen Texte aber, die man nicht sofort versteht und dennoch loben will, kann man es Herrn X. gleichtun und sie kafkaesk nennen, um das eigene Nichtverstehen als ästhetisches Spezifikum dem Werk anzudichten. Man muss es nur vehement genug tun.
Vielleicht wird die neue Bedeutung anlässlich des neunzigsten Todestages Kafkas am heutigen Dienstag ja auch noch in den Duden aufgenommen.
Zum Original
Das Buch, um dessen Kafka-Haltigkeit gestritten wurde, war die damals neu erschienene „Verteidigung der Missionarsstellung" von Wolf Haas. Ein postmodernes Verwirrspiel mit allerhand typographischen Spielereien, Fiktionsironie und miteinander verschränkten Erzählebenen. Es ist: recht albern, bei genauem Hinsehen nicht sonderlich innovativ, alles in allem ganz nett. Ganz sicher aber ist es nicht: kafkaesk.
Kafkaesk, so lässt es sich beim Kafka-Forscher Thomas Anz nachlesen, war zunächst einmal ein Text, der der Art Kafkas glich. Was man unter der „Art Kafkas" verstand, lässt sich am allmählichen Bedeutungswandel des Wortes ablesen: Außer Texten wurden bald auch Situationen und „diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung" damit beschrieben.
Heute heißt kafkaesk "irgendwas, was ich nicht genau verstanden habe"
Kafkaesk meinte das „Ausgeliefertsein an unbegreifliche, anonyme, bürokratisch organisierte Mächte, die Konfrontation mit Terror, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit". Ein Gefühl, das wir heute mit Akronymen wie NSA oder Prism umschreiben, aber weiterhin nur mit dem Adjektiv „kafkaesk" bezeichnen können. Auch der Duden kennt „kafkaesk" seit 1973 zur Beschreibung von etwas, das „auf unergründliche Weise bedrohlich" ist.
Dass Herr X. das Buch von Wolf Haas, das rein gar nichts Bedrohliches hat, als „kafkaesk" bezeichnete, deutet auf einen weiteren Bedeutungswandel hin: Es meint „irgendetwas, was ich nicht genau verstanden habe".
In dieser Bedeutung wird das Adjektiv immer wichtiger. Es ist so unentbehrlich geworden wie „poetisch" (was „irgendwie schön" bedeutet) und „ironisch" („irgendwie witzig"). Allein mit diesen drei Worten lässt sich schon eine Menge machen. „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran": poetisch. „Warten auf Godot": kafkaesk und ironisch. Alles von Max Goldt: ironisch und poetisch, manchmal kafkaesk. „Der kleine Prinz": poetisch.
Wie kafkaek ist der kleine Prinz?
Dass man den kleinen Prinzen vielleicht auch nicht so genau versteht, macht im Übrigen den Einsatz von „kafkaesk" noch nicht zwingend notwendig. Denn wenn es ein Buch geschafft hat, seine Sätze wie Metastasen in Poesiealben, Liebes-SMS und Facebook-Timelines zu streuen, und es weltweit auf Standesämtern als Ersatzbibel zitiert wird, muss man es nicht mehr verstehen.
Für alle anderen Texte aber, die man nicht sofort versteht und dennoch loben will, kann man es Herrn X. gleichtun und sie kafkaesk nennen, um das eigene Nichtverstehen als ästhetisches Spezifikum dem Werk anzudichten. Man muss es nur vehement genug tun.
Vielleicht wird die neue Bedeutung anlässlich des neunzigsten Todestages Kafkas am heutigen Dienstag ja auch noch in den Duden aufgenommen.
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