
Dozent unter dem Dach des Dschungels: Wenn es um Pflanzen und ihre Duftstoffe geht, blüht Laurent Séverac erst so richtig auf.
Wenn das Leben von Laurent Séverac ein Parfum wäre: Wie würde es riechen? Nach kräftigem Urwaldholz, nach Lavendel und Rosen, nach wildem Ingwer, nach der harzigen Schwere von Ambra und Oud. Ein Duft, bei dem man meint, gleichzeitig die Marschlieder der Fremdenlegion zu hören und Edith Piafs „Non, je ne regrette rien". Aber ist das nur die Kopfnote, der flüchtigste Teil eines Parfums, die schon nach wenigen Minuten verfliegt? Oder riecht man hier die Basis- und die Herznote, die den echten Charakter ausmachen?
An einem Mittag, an dem die Tropensonne, die keine Jahreszeiten kennt, auf ein kleines Tal im vietnamesischen Dschungel brennt, stapft Laurent Séverac durch die offene Wellblechhalle einer Zimtdestillerie. Überall auf dem Boden liegen Zweige und Blätter des Zimtbaums, die unter seinen Stiefeln brechen und zerbröseln.
Neben einem Häcksler, aus dem Arbeiter gerade einige festgefressene Äste ziehen, bleibt er stehen und wendet sich an seine Entourage aus drei französischen Praktikanten und zwei vietnamesischen Mitarbeiterinnen: „Dort drüben wird das Wasser erhitzt, in der Grube hier trifft der Dampf auf die gehäckselten Äste und nimmt ihren Duft mit. In den Rohren kühlt er ab." Die Praktikanten nicken. Die Assistentin Dung und die resolute Madame Binh kennen das schon. Dass er die Destillerie eben erst am Wegesrand entdeckt hat, merkt man ihm nicht an.
„Ich mache Parfums wie vor 200 Jahren"
Zwei Tage lang ist Séverac mit der Gruppe in den Dschungeldörfern Nordvietnams unterwegs. Um seinen Praktikanten, die in Frankreich tropische Landwirtschaft studieren, etwas von seinem Wissen weiterzugeben, aber vor allem, um nach Zutaten für seine Kreationen zu suchen.
Für seine Seifen, für seine Schokoladen, seine Liköre und besonders für seine Parfums. Séveracs Düfte stammen alle aus der Natur. „Ich mache Parfums wie vor 200 Jahren", sagt er. Keine synthetischen Riechstoffe, wie sie in der Parfumwelt überall üblich sind.
Im Tal der Destillerie herrschen Temperaturen wie in einem Backofen, in den eben ein Blech Zimtsterne geschoben wurde. Die Luft ist dick, heiß und klebrig wie Teig. Statt Sauerstoff füllt Zimt die Lungen. Séverac läuft über die Zimtäste und parliert, als ginge er durch einen Wald in Südfrankreich. Vor 50 Jahren wurde er in der Provence geboren, mit 25 kam er zum ersten Mal nach Asien. Sein Cousin, der für die französische Armee in Malaysia arbeitete, hatte ihn eingeladen.
Beim Destillieren hat er vietnamesisch gelernt
Schon auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt staunte Séverac, der gelernte Landschaftsgärtner, über die Blütenfülle. Manche Palme, die in seiner Heimat mäßig gut in Blumenkübeln gedeiht, ragte hier meterhoch in den Himmel. Dazu kamen das herrlich frische Essen und die wunderschönen Mädchen. „Ich weiß nicht wie", sagt er, „aber an diesem Tag habe ich mich in ganz Asien verliebt."
Als Backpacker reiste er 1989 nach Laos - und beschloss zu bleiben. Weil dort keine Landschaftsgärtner gebraucht wurden, ihm aber jede Art von Arbeit mit Pflanzen und Blumen leicht von der Hand geht, begann er, mit ätherischen Ölen zu experimentieren. 1993 reiste er nach Vietnam, weil es dort erfahrene Destilleure gab, von denen er lernen wollte. In Hanoi traf er Madame Binh - die er immer so nennt.
In ihrer und ihres Mannes Destillerie gewann er sein Öl. Oft lief die Anlage rund um die Uhr. In kalten Nächten dösten Séverac und Madame Binh neben dem brodelnden Kessel. Von ihr lernte er, fließend Vietnamesisch zu sprechen. „Ich habe mit dieser Frau mehr Zeit verbracht als mit jedem Mädchen", sagt er. „Mehr Zeit als mit meiner Mutter."
Der Herrscher des Dschungels
Während der Fahrt mit den Praktikanten kriegen sich die beiden gelegentlich in die Haare wie ein altes Ehepaar. Madame Binh will nicht zugeben, dass sie den Weg vergessen hat und sich der Fahrer deswegen andauernd verfährt. Das regt ihn auf. Es imponiert ihm aber, wenn sie nicht zugibt, dass sie etwas nicht kann, und sich dann so lange reinkniet, bis sie es kann. „Madame Binh, glauben Sie, Sie können Parfum machen?", fragte er sie, als er wusste, dass er nicht mehr nur Öle herstellen wollte. „Natürlich", antwortete sie. Und fing damit an.
Im Bus sitzt Madame Binh hinten bei der Assistentin Dung, davor sitzen die Studenten, auf der Bank hinter dem Fahrer Séverac. Den Arm auf der Lehne des leeren Platzes neben ihm, schaut er auf Reisfelder, Bambushaine und grün überwucherte Felsen. Mit dem langen Haar und der scharf geschnittenen Nase wirkt er fast aristokratisch, wie der absolutistische Herrscher des Dschungels.
Am ersten Tag, als der Kleinbus Séveracs Wahlheimat Hanoi verlässt, als die Autos immer weniger werden und die Schlaglöcher immer mehr, lässt er sich seinen Kulturbeutel nach vorne reichen. Darin bewahrt er eine Auswahl seiner ätherischen Öle auf, ohne die er nie verreist. Er reibt sich etwas Pfefferminzöl unter die Nase und an den Hals.
Mit geschlossenen Augen atmet er tief durch: „Das ist gut gegen die Reisekrankheit." Wobei seine Reisekrankheit eher daher rührt, dass er in der Nacht davor mit einigen französischen Militärs Rotwein getrunken hat.
„Ich mag den Geist der Legion"
Séverac hat eine Schwäche für Wein, aber er bereut den Wein von gestern, denn er war „ohne Geist". Nicht voll und reich wie der, den sein Großvater gemacht hat, für den er als Kind mit nackten Füßen die Trauben zertrat. In Séveracs Küche gibt es einen zweiten Kühlschrank, der Rotwein vor der Tropenschwüle schützt und die Flaschen auf 17 Grad hält. Es sind biodynamische Weine oder Naturweine. Nur in ihnen erkennt er, was er einst im Wein des Großvaters geschmeckt hat.
Laurent Séverac hat auch eine Schwäche für das Militär. Für die Fremdenlegion, für das Starke, das Konsequente. Er hat einige Freunde, die als französische Unteroffiziere dort gedient haben. Ihm gefällt, dass er sich auf sie verlassen kann. Manchmal trifft er sich mit ihnen, dann singen sie zusammen. „Ich mag den Geist der Legion", sagt er. Im Dschungel trägt er oft ein graues T-Shirt der „Légion étrangère". An Armen und Brust kann man dann gut sehen, dass er sich jahrelang durch Boxen fit gehalten hat.
Séverac - der vorsichtige Wildnispirat
Für jeden Tag im Dschungel hat Séverac ein eigenes Outfit. Als die Gruppe in den Bergen im Osten der Provinz Ha Giang zu Fuß ins Dickicht aufbricht, trägt er ein Khaki-Hemd mit Schulterklappen und eine breite Schärpe, wie sie auch dem Piraten Jack Sparrow gut stehen würde. Madame Binh verteilt riesige Regenschirme. Wenn es hier regnet, dann rauscht es wie unter einem Wasserfall. Den Schirm braucht Séverac aber auch, um Farne und Blätter beiseite zu drücken und Hölzer umzudrehen.
Er hat seine Handschuhe vergessen, und die nackten Hände sollte man hier nur benutzen, wenn man genau sehen kann, wohin man greift. Séverac hält sich an die Regeln, seit er einmal bloß eine Handbreit neben einen Hundertfüßler gefasst hat, dessen Nervengift wilde Schmerzen und Lähmungen hervorruft. Auch Schlangen sind im Dickicht unterwegs. Manchmal sieht man sie erst von den umwucherten Bäumen heruntergleiten, wenn man direkt vor dem Stamm steht.
Für die Industrie auf der Suche nach Neuem
Vor dem Gift der Pflanzen hat Séverac keine Angst. Solange er nichts hinunterschluckt, besteht keine ernsthafte Gefahr. Er geht kaum zehn Meter, dann hat er schon wieder eine Blüte gepflückt, eine Knolle ausgegraben oder eine Samenkapsel mit dem Messer zerteilt und in den Mund gesteckt.
Er zerbeißt das Stück, bewegt es mit der Zunge hin und her, öffnet den Mund und atmet ein. Im Mundraum entwickelt sich ein Geruch, der durch die Nebenhöhle zur Nase aufsteigt. So kann er erahnen, wie ein Öl davon riechen würde. Aber letzte Gewissheit bringt erst das Öl selbst.
Über die Jahre hat er viele Blätter, Wurzeln, Blüten zu Öl destilliert und an Luxushotels und Parfümeure verkauft. Bis 2009 hatte er zusätzlich einen festen Vertrag mit dem Laboratoire Monique Rémy, einer Tochter des amerikanischen Duft- und Aromaherstellers IFF, die in Grasse natürliche Duftstoffe verarbeitet. Für sie hat er nach neuen Düften gesucht.
Wer Ralph Lauren kauft, bekommt Séverac
Bei rund 800 Proben, die Séverac nach Grasse geschickt hat, hat es vier Mal geklappt. Was bei 300 bis 400 bekannten natürlichen Duftstoffen eine ganze Menge ist. Es müssen aber nicht immer neue Pflanzen sein. Manchmal ist es nur eine kleine Variation, die den Geruch so besonders macht. Wer heute eine Flasche „Polo Blue" von Ralph Lauren öffnet, kann in der Herznote frischen, kräftigen Basilikum riechen - Séveracs Basilikum aus Vietnam.
In den Bergen von Ha Giang sucht er vor allem nach wildem Ingwer. Tien, der in einem Ort in der Nähe wohnt und seit Jahren als verlässlicher Führer dient, weiß, wo der Ingwer wächst. Die Gruppe folgt ihm von schmalen Pfaden auf schmalste Pfade, spaziert über Lichtungen, taucht wieder ins Dickicht ein.
Séverac wühlt, gräbt und probiert, reicht alles herum und erklärt. Die Praktikanten aus Frankreich versuchen die beschriebenen Gerüche zu erschnuppern, was nicht immer gelingt. „Richtig verstehe ich die Düfte erst, seit ich selbst Parfums herstelle", sagt Séverac. Er nimmt sie jetzt bewusster wahr, fügt sie im Kopf zusammen. Erst vor sechs Jahren hat er damit angefangen. „Ich bin jetzt an jedem Schritt beteiligt - wie ein Weinbauer." Vom Anpflanzen und Aussuchen der Ware bis dahin, dass er das Etikett seiner Firma Aromasia aufklebt.
„Wenn so einer das sagt, dann hältst du die Klappe."
Seit 2008 baut er auf einer 15 Hektar großen Plantage vier Autostunden südlich von Hanoi viele seiner Rohstoffe wie Kaffee, Patschuli, Grapefruit oder Basilikum selbst an. Ohne Chemie und bald nach biodynamischen Kriterien, sagt Séverac. Was er für seine Parfums braucht, aber nicht selbst anpflanzen kann, kauft er von Bauern, die er bei den Touren kennengelernt hat. Düfte, die nicht aus der Natur stammen, kommen nicht in seine Parfums.
Im 19. Jahrhundert begannen Chemiker, Gerüche synthetisch nachzubilden. 1921 kam Chanel No. 5 heraus, das erste Parfum, bei dem die synthetischen Riechstoffe dominierten. Heute bestehen viele Parfums nur noch daraus. „Allein aus natürlichen Düften kann man kein wirklich großes Parfum erschaffen", sagte Parfümeur und Chanel-Berater Alain Muraour einmal zu Séverac. Er widersprach nicht. „Wenn so einer das sagt, dann hältst du die Klappe." Aber gedacht hat er: Doch, das gelingt mir.
Die Mutter mag alles von ihrem Sohn
Auf der Exkursion in den Bergen zeigt Tien der Gruppe neben dem Trampelpfad eine nur von Farnen und niedrigen Bäumen bewachsene lichte Stelle. Dort steht der wilde Ingwer. Séverac buddelt die Knolle aus und probiert. Die raue Schärfe auf der Zunge wird auch noch im Öl zu schmecken sein. Der Duft des Öls aber ist rund und erinnert an milde Zitronen.
Er ist ein Teil des frischen Hauchs in der Kopfnote von „Ginger Wood", einer Parfumkreation Séveracs. „Ginger Wood" ist für Séverac der Duft von Laos, seinem Lieblingsland in Asien, das er zwei bis drei Mal im Jahr besucht, und in dem einige seiner besten Freunde wohnen. „Ginger Wood ist der Geruch, wenn wir abends bei Sonnenuntergang mit unseren Motorrädern aus dem Dschungel kommen und der Rauch der Kochfeuer sich mit den Düften der Pflanzen vermengt."
Mit anderen Worten: Es riecht frisch und herb, pfeffrig, holzig, leicht ölig. „Ich kann verstehen, wenn das nicht jeder mag", sagt Séverac. „Nur meine Mutter mag alles, was ich mache." Dass aber ausgewanderte Laoten sagen, sie müssten bei dem Geruch an ihre Heimat denken, erfüllt ihn mit Stolz. Weil es bedeutet, dass es ihm gelungen ist, Erinnerungen zu wecken. Oder, wie es der Parfümeur Jean-Claude Ellena in seinen Büchern ausdrückt: mit Düften Geschichten zu erzählen.
Alpenwiese, Kloster und Hundegeruch
Wie eng Erinnerung und Duft zusammenhängen, erkennt man an den großen Düften der Parfumgeschichte. Das „Eau de Cologne" geht auf den Duft italienischer Alpenwiesen voller Narzissen zurück, auf denen sein Erfinder Johann Maria Farina seine Kindheit verbrachte. Coco Chanel soll zu ihren klaren Düften durch die Gerüche des Klosters inspiriert worden sein, in dem sie aufwuchs.
Séveracs erste Geruchserinnerung ist Youki, der Hund seines Vaters. Ein ziegelsteinroter Mischling vom Gewicht eines Berner Sennenhunds. Wenn der Vater, der bis zur Rente einen Gemüseladen besaß, auf Jagd und Trüffelsuche ging und mit Youki aus den Wäldern der Provence zurückkam, umarmte der vierjährige Laurent den Hund und vergrub seine Nase im nassen Fell. Es roch nach Lavendel, Rosmarin und Thymian.
Der Geruch des Abends ist der Geruch von Sesam. Séverac und seine Leute sind nach der Dschungelwanderung bei Tien zum Essen eingeladen. Junge Männer stampfen im funzeligen Licht der Glühbirnen vor dem Haus Klebreis mit Bambusrohren zu einem Teig. Auf einer niedrigen Veranda mischen Frauen warmen Sesam mit viel Zucker zu einer Paste, die sie mit dem Teig umhüllen und in ein Bananenblatt wickeln - ein Kuchen.
Mehr Natur bedeutet mehr Geschmack
Madame Binh, die diese Art von Kuchen noch nie gebacken hat, sitzt mittendrin und arbeitet mit. Séverac hockt auf einer Treppenstufe daneben und versucht, die Frauen zu überreden, wenigstens teilweise Honig statt Zucker zu verwenden. Er selbst isst seit Jahren kaum noch Zucker. Und er ist überzeugt, dass mehr Natur mehr Geschmack bedeutet.
Von fast allem, was man schmecken, riechen oder fühlen kann, hat er eine klare Vorstellung der idealen Form. Zu Hause muss das Brot zum Frühstück, ein Baguette aus Sauerteig, so getoastet werden, dass die äußerste Schicht knusprig ist, aber, wenn man mit zwei Fingern drückt, sanft einbricht und das Innere federnd nachgibt. Die Butter soll bis kurz vor dem Bestreichen im Kühlschrank stehen.
Den schwarzen Kaffee dazu hat er selbst geröstet, der Honig ist manchmal verfeinert mit ätherischen Ölen. „Das ist auch ein Grund, warum ich mit niemandem zusammenleben kann", sagt Séverac. Nach der Tour durch den Norden ist er zurück in Hanoi. Weil er kein frisches Essen im Haus hat, ist er in einen feinen Stadtteil am Westsee gefahren, wo vor kurzem eine französische Crèperie eröffnet hat. Er sitzt auf einem Barhocker am Balkon, in der Hand einen Whisky als Digestif und blickt auf sein Cross-Motorrad am Ufer. „Ich kann nicht ewig mit der gleichen Frau zusammen sein. Ich meine das gar nicht sexuell. Es ist nur so, dass ich keine Kompromisse machen will."
„Ich will keine Familie, ich will meine Freiheit"
Bei seinen Parfums, beim Frühstück oder bei seiner Entscheidung, keine Kinder zu wollen. Seiner Freundin, die zehn Jahre jünger ist als er, hat er das schon vor Jahren gesagt. „Ich dachte, sie gibt mir irgendwann den Laufpass. Aber Frauen denken, man ändert sich. Ich will aber keine Familie. Ich will meine Ruhe, meinen Freiraum - und auch das Risiko will ich selbst tragen."
Weil er sich für vieles begeistern kann, was mit Natur und Ästhetik zu tun hat, hat Séverac auch mal Bambusmöbel gebaut. Aber er verspekulierte sich, ging pleite und musste Abertausende Euro Schulden abbezahlen. Damals boten seine Eltern ihm an, er könne den Gemüseladen in der Provence übernehmen, wenn der Vater in Rente geht. Es war eine Zeit, in der vietnamesische Gläubiger in sein Haus kamen und es mit seinem Motorrad wieder verließen. Aber Séverac hat gekämpft und ist in Asien geblieben. Parfum herzustellen, vom Anfang bis zum Ende aus der Natur, das fühle sich richtig an. „Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Aber ihr Leben ist nicht mein Leben." Séverac schweigt, schaut auf den Fluss und nimmt einen Schluck Whisky: „Väter übernehmen Verantwortung für Familie und Kinder. Das sind wirklich mutige Männer. Väter und Fremdenlegionäre."