
Ein ;Mann, ein Rad, eine Reise - Shahin Sadatolhosseini und sein Rhönrad Rocinante mit Kindern in Georgien.
Sieht man Shahin Tivay Sadatolhosseini an, seine zur Seite gezwirbelten grauen, krausen Koteletten und seine bunten Klamotten, muss man an Krusty, den Clown aus den „Simpsons", denken. Aber wenn man sieht, was Sadatolhosseini den ganze Tag über tut, denkt man eher an Sisyphos.
Denn Sadatolhosseini verbringt derzeit die meisten seiner Tage damit, ein zwei Meter hohes und 100 Kilogramm schweres Stahlrad vor sich herzurollen. Ein kräftiger Schubs, das Rad rollt etwa sieben Meter, Sadatolhosseini schreitet hinterher, dann wieder ein kräftiger Schubs.
In Georgien nun geht gerade ein sonnenreicher Tag zu Ende, als der Öcher Perser und sein Rad in die Stadt Gardabani rollen. Vor zwei Tagen ist er in Tiflis, der Hauptstadt, aufgebrochen. Morgen will er die Grenze zu Aserbaidschan überqueren. Aber beides ist im Moment so fern wie Aachen und Teheran. Im Moment denkt Sadatolhosseini bloß: Wo werde ich heute übernachten?
Eine Gruppe Männer stoppt ihn. Um die 40 Jahre, sauber, aber nachlässig gekleidet, neugierig, was da in ihre Stadt rollt. Sie sprechen Sadatolhosseini auf Russisch an. Der schüttelt den Kopf: „Deutsch, English, Farsi." Nein? Dann Zeichensprache: Woher? Wohin? So oder so ähnlich hat Sadatolhosseini das heute etwa dreißigmal erlebt. Und auch das anschließende schweigende Betrachten des Rades und die hochgezogenen Augenbrauen:
„Das Rhönrad hat mir Halt gegeben", sagt Sadatolhosseini. Er hat es erst in Aachen kennengelernt. Nachdem er mit 13 Jahren vor dem Iran-Irak-Krieg nach Deutschland geflohen war. Mit seiner Mutter, aber ohne Freunde und kaum einem Wort der deutschen Sprache. Und es hat ihn während seines Lebens in Deutschland begleitet. Während er als Fotograf arbeitete, während er Design studierte, während er seine ersten Ideen als Aktionskünstler umsetzte, während seiner Zeit als freier Designer.
Und nun, wo Sadatolhosseini 46 Jahre alt ist, begleitet es ihn deswegen auch nach Teheran. Die Stadt seiner Kindheit. Es ist das erste Mal, dass er sie wiedersehen wird. Erst konnte er nicht zurück, weil er noch ein Junge war. Später nicht, weil er ein Mann war und zum Militärdienst eingezogen worden wäre. Als die Gefahr überstanden war, hat es sich nie so recht ergeben. Lange nicht. So sind nun 30 Jahre vergangen.
Gemeinsam bewältigen Sadatolhosseini und sein Rad am Tag etwa 20 Kilometer. Manchmal auch 40. Manchmal verlaufen sie sich, dann müssen sie alles wieder zurück. In Deutschland ging es anfangs durch Eis und Schnee. In Serbien durch Hitze und Staub. In Bulgarien mussten sie auf der Landstraße neben Lastwagen rollen. In Istanbul vierspurige Stadtautobahnen überqueren.
Sadatolhosseini kann in seinem Rhönrad auch schlafen. Dann spannt er eine Hängematte in das Rad und eine Plane darüber. „Mein Schneckenhaus", nennt er das. Ein Bild, das ihm gut gefällt, denn die Schnecke, die so langsam reist, ist sein Lieblingstier. Ein „weises Tier", das sich nicht hetzen lässt.
Das Schneckenhaus wäre also eine Option für diese letzte Nacht in Georgien. Aber auch für sein Schneckenhaus braucht er einen geschützten Platz, schließlich sind auch seine Sachen an dem Rad angebracht. Er hat sie in zwei Bündel geschnürt. Ein leichtes von etwa 15 Kilogramm und ein schweres von 40. Das eine ist sein „Keller", mit den Sachen, die er gerade nicht braucht, Winterklamotten zum Beispiel oder der Laptop, mit dem er seine Fotos bearbeitet, das andere sein Handgepäck. So muss er nicht immer alles aufschnüren, und die unterschiedliche Größe hilft ihm auch beim Reisen. Wie bei einem Wankelmotor zieht das schwere Gewicht das Rand vorwärts. Zumindest sieben Meter weit.
Und doch ist er auf der Straße bloß ein Reisender. Einer, der heute Abend in Gardabani einen Platz für sich und sein Rad braucht. Und zwar möglichst einen kostenlosen, denn das Budget speist sich vor allem aus Erspartem. Also entweder die Stadt rechtzeitig verlassen, um zu zelten. Oder eingeladen werden. „Das geht aber nur, solange es hell ist", sagt Sadatolhosseini. Denn dann sind die Leute aufgeschlossen und hilfsbereit. Sehr oft hat er das auf seiner Reise schon erfahren. Auch der Zufall hat seine Regeln.
Immer wieder wird Sadatolhosseini angesprochen. Er reagiert kurz angebunden. Woher? „Deutschland." Wohin? „Iran." Erst wenn dann einer mehr fragt oder sagt, wird auch Sadatolhosseini gesprächig. Natürlich sucht er den Kontakt, will die Leute zum Reden bekommen, das ist Teil des Projekts, aber er will sich nicht aufdrängen. Und das Gespräch muss es wert sein. Denn lieber als das Oberflächliche ist ihm die Ruhe zum Nachdenken. „Auf einsamen Strecken treffe ich den ganzen Tag niemanden. Dann habe ich 24 Stunden nur für mich. Das ist ein Luxus, den ich jedem wünsche."
Überhaupt: die Möglichkeit, so viel über sich selbst zu lernen. Wie man die Extreme aushält - Kälte, Nässe, Hitze, Entkräftung, Frust. Was einem wichtig ist (Zeit), was nicht (Geld) und wie viele Besitztümer man wirklich braucht. „Ich habe mich zum Beispiel für einen unheimlich ökologischen Menschen gehalten", sagt Sadatolhosseini. „Aber dann habe ich festgestellt, dass ich mich zu 90 Prozent nicht an meinen eigenen Kodex halte."
Das beginne schon bei der Körperpflege. Klar habe er immer nach einem möglichst ökologischen Shampoo Ausschau gehalten. Aber warum überhaupt ein Shampoo? „In der Türkei schäumt der Barbier deine Haare doch auch mit Kernseife."
Für Selbsterkenntnis und tiefe Gespräche aber hat Sadatolhosseini in Gardabani gerade keine Zeit. Die Straßen sind schon schattengrau, die Strahlen der sinkenden Sonne erreichen Sadatolhosseini und sein Rad nicht mehr. Also nicht zu lange reden, wenn es nicht vielleicht auf eine Übernachtung hinausläuft. Sich aus Freundlichkeit verquatschen kann bedeuten, dass er weite Strecken bei Nacht rollen muss. Wenn er nicht gut gesehen wird von Autos und Lastwagen. Wenn Betrunkene auf schlecht beleuchteten Straßen unterwegs sind.
Vor einem Restaurant winkt ihn einer hinein. Ohne Vorrede. Trinken? Essen? In Zeichensprache und mit einer ausholenden Geste. Winkt da auch ein Übernachtungsplatz? Könnte sein. Sadatolhosseini stellt das Rad ab. Die Wertsachen trägt er in einem Geraffel aus Bauchgurttasche mit Karabinern um den Körper.
Im Restaurant wird Bier gebracht, Salat mit Gurken und Tomaten, Brot und Fleisch. Der Gastgeber taucht nur kurz auf. Wichtig ist ihm zu sagen: Er ist kein Georgier, sondern Aserbaidschaner. Ein Teil der Minderheit, die hier in der Grenzregion die Mehrheit stellt. Deswegen sei er so hilfsbereit. So wie alle Aserbaidschaner.
Sadatolhosseini hört das oft: Gefährlich sind immer die anderen. Das Vertrauen in die Mitmenschen endet meist an der nächsten Landes-, Sprach- oder Religionsgrenze. Aber wenn man dann über diese Grenzen hinwegrollt, sieht es dort genauso freundlich aus. Dennoch hofft Sadatolhosseini, dass an der Schwärmerei über Aserbaidschan etwas dran ist. Denn bei einem autoritären Regime rechnet er erst mal mit einer gewissen Willkür.
An einem schlechten Tag eben nur die 15 KilometerSo erlebte er es in der Türkei. Dort hatte ihn die Polizei verhaftet, als er das tägliche Foto von seinem Rad gemacht hat, um es auf seine Website zu stellen. Ein Rhönrad unterwegs auf der Straße von Aachen nach Teheran. Er hat nicht verstanden, warum man ihn verhaftete. Auch nicht, als ihn ein Richter zehn Stunden später wieder entließ. Alles lief auf Türkisch ab. Später fand er heraus: Irgendwo in der Nähe war vermutlich ein Gefängnis für politische Gefangene.
Dann ist das Essen vorbei. Der Gastgeber schreibt noch seine Nummer auf, falls Sadatolhosseini noch etwas brauchen sollte. Dass er jetzt, wo es draußen vollends dunkel geworden ist, einen Schlafplatz braucht, sieht der Mann nicht. Und Sadatolhosseini möchte ihn auch nicht darauf aufmerksam machen. Er hat etwas bekommen. Es wird sich schon etwas ergeben.
Am Anfang der Reise hat Sadatolhosseini viel mehr geplant. Auch die Strecke. „Ich war die ersten drei Monate noch in dieser zielstrebigen deutschen Denkstruktur. Ich musste pro Tag 25 Kilometer machen, sonst hatte ich meine Tagesroute nicht geschafft." Mit der Zeit kam er zu der Einsicht, dass es okay ist, wenn er an einem schlechten Tag eben nur die 15 Kilometer geht und an einem anderen die 40. „Man muss Ziele haben. Und die muss man auch erreichen, aber man muss auch schauen, was der Tag einem für Möglichkeiten anbietet."
Die Möglichkeiten für den Abend aber scheinen beschränkt. Sadatolhosseini stellt sich auf eine Nachtschicht ein, als ihn wieder jemand anspricht. Ein junger, blonder Kerl, der nur Türkisch und sehr wenig Englisch kann, aber mit einem schlacksigen Deutschen Anfang 20 im Schlepptau. Der Deutsche heißt Christian und reist gerade drei Monate lang Richtung China. Wie der türkische Missionar ist er erst heute angekommen. Beide haben sich im Bus aus der Türkei kennengelernt. Und sie verstehen sofort, was gebraucht wird.
Und so endet der Abend für Sadatolhosseini und Rocinante in einem alten, abgewohnten georgischen Bauernhof, der einem evangelikalen türkischen Pfarrer gehört. Draußen Plumsklo, Hühner und Karnickel, drinnen ein Tisch, schwer beladen mit Schokoladencremekuchen, Bananen, Äpfeln und Baklava. Auf dem Gasofen in der Ecke brodelt der Tee in der zweistöckigen Teekanne, von der Tür blättert der Lack. Der junge Missionar greift zur leicht verstimmten Gitarre, Christian zur Rassel, Sadatolhosseini nimmt die Handtrommel. Später reden sie über Gott und die Welt.
Über Gott, der dem jungen Missionar so lange ins Gewissen geredet hat, bis er vom Salafisten zum Christen wurde. Über die Welt, die Christian bereisen will und die Sadatolhosseini bereist hat. Sadatolhosseini erzählt, wie er in Serbien angefahren wurde, wie er auf einem Autodach landete, wie dabei das Rad zerstört wurde, wie er deswegen seinen Plan, binnen eines Jahres in Thereran anzukommen, über den Haufen werfen musste, wie ihm Freunde in Deutschland halfen, ein neues Rad aufzutreiben.
Und wie in Tschechien jemand auf ihn am Straßenrand gewartet hat, weil er von einem Freund erfahren hat, dass dieser Rhönrad-Wanderer durchkommen soll und eine Unterkunft sucht. Dann hat er ihn in eine nagelneue Ferienwohnung mitten im Wald gesteckt, ihm eine Flasche Schiraz hingestellt und sich zurückgezogen. Keine Verpflichtungen, nur Ausruhen vom Wandern. Zwei Tage lang. Was für ein Geschenk!
„Oh, so etwas Schönes möchte ich auch haben!", ruft Christian aus.
„Das kommt, das kommt", sagt Sadatolhosseini ruhig. „Wichtig ist, dass du deinen eigenen Weg gehst. Man erlebt da so viel."
Sadatolhosseinis eigener Weg wird ihn am nächsten Morgen Richtung Aserbaidschan führen. Bis zur Grenze. Als er an der großen georgischen Fahne vorbeirollt, die auf die Wand des Grenzhäuschens gemalt ist, weiß er nicht, wie lange er in Aserbaidschan bleiben wird. Er weiß nicht, dass er recht behalten wird, was die unfreundliche Polizei betrifft, und er weiß nicht, dass er sie am Ende überlisten wird. Dass er nach 20 Tagen das Land verlassen wird, wie er am Telefon und per Facebook berichtet. Er weiß nicht, dass man ihn in Iran herzlich willkommen heißen wird. Aber so wird es kommen.
Und dann - so hofft er - wird er Mitte Juli Teheran erreichen. Wird das Rad vor dem Teheraner Museum für Zeitgenössische Kunst abstellen und es ihm schenken. Und frei sein von der Aufgabe. Und danach? Zum Wintersemester muss er wieder an der Uni sein, aber was sonst passiere, wisse er auch nicht, sagt Sadatolhosseini. „Ich weiß nur: Ich möchte nie wieder im Leben etwas machen, das mich mehr als zehn Minuten am Tag ärgert." Und: wieder mit einem Rhönrad reisen.