Heidi und wie sie die Welt sah
Heidi Hetzer fährt jetzt nur noch 60 Kilometer pro Stunde. „Man hat mir gesagt, wenn ich mit Hudo nur 60 bis 80 fahre, hält er ewig." Und weil sie mit ihrem Oldtimer einmal um die Welt fahren will, hält sie sich daran. Meistens jedenfalls. „Wenn schon nur 60, dann aber auch 60 in der Kurve." Auch wenn die Holzspeichen des 85 Jahre alten Autos ächzen. Aber für Heidi Hetzer („Früher wurde ich nie überholt") ist Entschleunigung nicht so einfach.
Seit einem halben Jahrhundert fährt sie Rallyes wie Panama-Alaska oder Düsseldorf-Schanghai. Und ehe sie im August 2014 in Berlin zu ihrer Weltumrundung aufbrach, führte sie dort 43 Jahre lang „als Vollblut-Kauffrau" das Autohaus Opel Hetzer. „Die größte Sorge war immer: Was ist, wenn es morgen nicht mehr klipp-klapp macht und kein Kunde mehr durch die Tür kommt?" Wie die Mitarbeiter bezahlen? Also sparte Heidi Hetzer und arbeitete und sparte und arbeitete. Nur dann und wann nahm sie sich ein paar Wochen für eine Rallye frei. Irgendwann, dachte sie, kippe ich im Geschäft einfach um.
Und was dann? Ihre Kinder würden das Familienunternehmen nicht weiter-führen. Also wollte sie den Verkauf besser selbst in die Hand nehmen. Sie suchte sich einen Käufer, der sich verpflichtete, niemanden zu entlassen, und war dann plötzlich frei - ohne Aufgabe. „Mama, du stirbst, wenn du nichts machst", sagten die Kinder. So beschloss Heidi Hetzer, um die Welt zu fahren. Wie Clärenore Stinnes, die junge Rennfahrerin, die von 1927 bis 1929 zum ersten Mal in einem Auto die Welt umrundete. Hetzers Vater hatte ihr davon erzählt, als sie ein junges Mädchen war. Clärenore Stinnes' Weltreise hatte ihn bestärkt, selbst aufzubrechen. Mit seiner Frau fuhr er im Motorrad mit Beiwagen durch die Wüste Sinai. Die Fotoalben dieser Reise waren Heidi Hetzers Bilderbücher.
Aber mit 77 Jahren als Frau um die Welt fahren? Wie bei Clärenore Stinnes meldeten sich auch bei Heidi Hetzer sofort Bedenkenträger. Sie fragten: Hast du keine Angst? „Angst, Angst, Angst - immer Angst. Vor watt haben die denn alle ständig Angst?" Trotzdem wollte sie nicht alleine aufbrechen. Ein junger Reisefotograf sollte sie begleiten. Noch in Deutschland aber trennte sie sich wieder von ihm. Zu ängstlich! „Der hat beim Überholen immer gerufen: ein Auto, pass auf!" Später kam einer, „der alles besser wusste", brachte weiße Schonbezüge mit und wollte Hudo „um die Welt reparieren". Er blieb nur von Istanbul bis Buchara. Durch China fuhr Mister Wang mit, den die Behörden als Aufpasser ausgesucht hatten.
Seither steht auf dem Beifahrersitz wieder die Werkzeugkiste, und Hetzer ist froh, dass sie fahren kann, wie sie will: rechts, links und auch mal die Nacht durch. Am Morgen frühstückt sie Toast und kümmert sich eine halbe Stunde um den Hudson Greater Eight: Öl und Luft prüfen, Wasser nachgießen, in heißen Gegenden Holzspeichen einsprühen. Dann lädt sie ihre Taschen ein und braust los. Sie fährt gern und lang. Auch wenn es im Fußraum manchmal so heiß ist, dass sich die Sohle vom Schuh löst, auch wenn es in Hudo reinregnet, auch wenn sie oft überholt wird. Der Klang der acht Zylinder sei ein Konzert, sagt sie. Und dann die Landschaft und all das Neue am Wegesrand. „Die haben überall andere Tiere, andere Vögel, verdammt noch mal. Ich habe ja gar nicht gewusst, wie schön und wertvoll das ist."
Im Juni ist sie nun von Neuseeland nach Amerika geflogen, Hudo folgte auf einem Containerschiff. Anfangs genoss sie es, ohne auffälliges Auto unterwegs zu sein, aber bald schon fehlte es ihr. Und noch etwas fehlte: das Kreuz des Südens am Himmel. „Wissen Sie, mir war nie so klar, dass wir nur bestimmte Sterne sehen", sagt Heidi Hetzer. „Und die anderen, die bleiben auf der anderen Seite der Welt."
Miss Wollie und ihre ChaffeurinWer seinen BMW tunen will, kann ihm schicke Alu-Felgen verpassen. Er kann ihn tiefer legen und ihm mit einem neuen Endtopf sportlichen Klang geben. Tanja Beck hat das alles gemacht. Und dann hat sie angefangen, ihren BMW 328i zu umhäkeln. Stück für Stück. Am Anfang die Außenspiegel und die Dachreling. Dann hat sie eine Häkeldecke auf der Motorhaube verzurrt und die Stoßstange beklebt. Heute steckt das Auto, das sie Miss Wollie nennt, nahezu vollständig in Wolle. Bloß ein paar Teile wie Nummernschild und Scheinwerfer sind freigeblieben. Wegen des TÜV.
Wenn die 23 Jahre alte Schwäbin ihre Geschichte erzählt, muss sie vor allem drei Fragen beantworten: Wie lange hat das gedauert? Was passiert, wenn es regnet? Und: Warum das alles?
Gedauert hat es ein halbes Jahr. Erst häkeln, dann die fertigen Teile mit Scheibenkleber auf Autofolie kleistern. Vom vielen Häkeln holte sich Tanja Beck eine Sehnenscheidenentzündung an beiden Armen. Der Arzt riet zur Pause. Nach ein paar Tagen häkelte sie weiter.
Was macht sie bei Regen? Nichts. „Das ist Synthetikwolle, die nimmt wenig Wasser auf und trocknet auch schnell." Deshalb hat sie die also gekauft? Nö, war bloß billiger. „Das ist alles nicht so günstig, wie man am Anfang denkt. So blöde Wolle ist ganz schön teuer." Am Ende kamen rund 800 Euro zusammen.
Bleibt die Frage: Warum? Darauf hat Tanja Beck schon unterschiedliche Antworten gegeben. Weil sie das Auto im Winter kaufte und zum Fingerwärmen mit einem wollenen Überzieher für den Schalthebel begann. Weil sie das Auto „für wenig Geld pimpen" wollte und ihr das Lackieren zu teuer war. Weil sie noch nie ein umhäkeltes Auto gesehen hatte und es witzig fand. Weil es eben eine „brutale Schnapsidee" war.
Vermutlich ist das alles richtig. Verstehen tut man es trotzdem nicht. Vielleicht, weil die Frage falsch gestellt ist. Vielleicht muss man fragen: Und sonst so?
Sonst so passierte bei Tanja Beck früher nicht viel. „Wenn man mich gefragt hat, was gibt's Neues, dann gab es bei mir nie was Neues." Sie arbeitete in dem Friseursalon ihrer Heimatstadt Laupheim, in dem sie sechs Jahre zuvor eine Lehre gemacht hatte. Sie ritt, seit sie denken konnte, auf Westernpferden. Und sie interessierte sich für Autos, seit sie den Kfz-Mechaniker kennengelernt hatte, mit dem sie sieben Jahre zusammen war. Kurz: Es gab viel Alltag für eine Frau Anfang 20. „Ich hatte es satt", sagt sie, „jeden Monat das Gleiche zu machen."
Anfang vorigen Jahres trennte sie sich von ihrem Freund; las an einem Freitag auf Facebook, dass eine deutsche Auswandererfamilie in Texas Praktikanten suchte, die mit Pferden umgehen können; skypte mit der Familie am Samstag; kündigte am Dienstag ihre Arbeitsstelle.
In Texas lebte sie drei Monate auf der Ranch mit Hunden, Pferden und einem Schaukelstuhl auf der Veranda. „Es sah aus, wie man sich eine Ranch vorstellt." Wie in der Fernsehreihe „McLeods Töchter", die sie als Jugendliche schaute. Sie lebte anderthalb Pick-up-Stunden von Dallas entfernt und 20 Minuten vom nächsten Nachbarn. Es gab weder Internet noch Fernsehen. Tagsüber ritt sie bei 38 Grad die Jungpferde ein, abends bekam sie Kost und Logis. Wenn sie mit der Familie nicht gerade beim Rodeo oder beim Barbecue war, saß sie abends im Wohnzimmer - und häkelte. So wie es ihr die Gastmutter beigebracht hatte.
Als sie zurückflog, hatte sie eine gehäkelte Sofadecke im Gepäck. Und das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. „Texas hat alles verändert", sagt Tanja Beck, die heute als mobile Friseurin selbständig ist. Am Ende auch ihr Auto.
Go Trabi GoAls Ivonne Oertel ihren Führerschein machte, war die DDR seit fast einem Jahrzehnt Geschichte. In ihrer Heimatstadt Nossen konnte man längst Westautos kaufen. Aber immer noch fuhren auch Trabis über Pflasterstraßen und Alleen. „Wenn du dir einen Trabi nimmst, können wir das eine oder andere selbst machen", sagte ihr Vater. Er war kein Automechaniker, aber wie viele Menschen in der DDR hatte er gelernt, seinen Trabi bei Laune zu halten - für Werkstatttermine brauchte man Beziehungen oder eine gute Salami. So wurde Ivonne Oertels erstes Auto ein Trabant P601. Hinten blau, vorne gelb, mit getönten Scheiben.
Das war 1997. Die Jahre, in denen alle ihre Trabant loswerden wollten, waren vorbei. Die Jahre, in denen Trabifahrer Exoten wurden, hatten noch nicht begonnen. Trabifahren war weder normal noch ungewöhnlich. „Es war nicht meine Absicht aufzufallen", sagt Ivonne Oertel.
Als nach einem halben Jahr die Elek-trik des P601 ausfiel, konnte auch der Vater nichts machen. Trotzdem wurde ihr zweites und auch ihr drittes Auto wieder ein Trabant. Obwohl sie weder Servolenkung noch Bremskraftverstärker hatten. Zweimal Trabi-Limousine, lang genug, dass Oertel darin schlafen konnte, wenn sie die Rücksitzbank umklappte und eine Matratze reinlegte. Das war wichtig geworden, denn damals fuhr Ivonne Oertel zu den ersten Treffen.
Dort sah sie Dutzende, manchmal Hunderte Fahrer von Trabis, Wartburgs, Schwalben und anderen ostdeutschen Fahrzeugen. Auf einer Wiese parkten die Autos, daneben standen Zelte und DDR-Wohnwagen. Eine Jury kürte die schönsten Umbauten und die besten Restaurierungen, man stand zusammen und sprach über Zylinder und Lackfarben, über Champagnerbeige und Gletscherblau.
Ivonne Oertel lernte viel. Meist von Männern. Auf zehn männliche Fans kommen ein bis zwei Frauen, die nicht bloß Beifahrer sind, sagen Trabifahrer. Und von denen nähmen nur die wenigsten Schraubenschlüssel und Ratsche in die Hand, sagt Oertel. Heute weiß sie mehr über den Trabi als ihr Vater.
Es gab Zeiten, da fuhr sie zu knapp 20 Treffen im Jahr. Freundschaften entstanden. Mit Katja fuhr sie Orientierungs-Rallyes, von Tim ließ sie sich zeigen, wie man einen Motor auseinandernimmt, mit Daniel stellte sie in Brandenburg ihr eigenes Treffen auf die Beine. Den Kontakt hält sie über Trabi-Foren im Internet.
Mit Tim, Daniel und den anderen verbindet sie das Auto, mit dem Auto verbindet sie ihre Geschichte. Auch im Westen gibt es Trabi-Clubs, „man kennt sich, man grüßt sich". Aber die Wessis stehen im Verdacht, nur einen billigen Einstiegs-Oldtimer fahren zu wollen. Sie waren nie „Hintensitzer" wie Oertel und ihre Kumpel. Soll heißen: Sie sind nie mit dem Trabi zum Familienurlaub an die Ostsee oder in die Tschechoslowakei gefahren. Sie haben keine Schwarz-Weiß-Fotos von der Hochzeitsreise ihrer Eltern im Trabi. Und nie im Leben hätten sie sich als erstes Auto einen Trabant gekauft.
Viele der Freundschaften haben über die Jahre gehalten. Als sie ihren Trabi nach dem Studium abmelden musste, weil das Geld fehlte, liehen ihr Freunde Autos für die Treffen. Als sie eine Stelle in Rostock annahm, traf sie dort Daniel wieder. Als sie später nach Rüdersdorf bei Berlin zog, wo sie heute für einen Lebensmittelhersteller arbeitet, wohnte Tim schon in der Nähe. Jetzt steht die Fünfunddreißigjährige mehrmals in der Woche mit ihm in seiner Werkstatt, wo sie einen gelben P601 flottmachen.
Manchmal hört sie Sätze wie: „Was macht ihr denn noch mit den Pappen? Ich hab die lang genug gefahren, ich muss das nicht mehr machen." Das sei eben der Unterschied, sagen Oertel und ihr Kumpel. „Wir müssen nicht. Wir dürfen."