
Gemeinsam ist man weniger allein: Selbst bettlägrige Patienten sollen im Demenzheim „Sonnweid“ nicht im Einzelzimmer verschwinden.
Wir sollten ihnen als Menschen gegenübertreten. Wir müssen weg von dem Gedanken, dass Demente irgendetwas anderes wollen als Menschen ohne Demenz. Sie wollen, dass man ehrlich mit ihnen ist, dass man sie nicht übergeht, dass man so mit ihnen redet, dass sie es verstehen. Das sind alles zutiefst menschliche Bedürfnisse.
In einigen Heimen gibt es zum Beispiel falsche Bushaltestellen: mit Haltestellenschild, Wartehäuschen und Fahrplan, bloß ohne Bus. Zu denen gehen die Pfleger mit Bewohnern, die nach Hause möchten. Ich nehme an, davon halten Sie nichts?Niemand will angelogen werden. Auch nicht, um geschont zu werden - das ist eine völlig falsche Haltung. Außerdem mache ich so etwas ja nicht, um den Dementen zu retten, sondern um mich zu retten. Weil ich es nicht aushalte, dass er zu mir sagt: „Ich will nach Hause."
Wenn jemand im Flur sitzt und sagt: „Ich warte auf den Bus", würden Sie dann in die Geschichte einsteigen?Ich würde sagen: „Der Bus kommt hier nicht." Und dann würde er sagen: „Wie komme ich jetzt nach Hause?" Ich: „Da ist die Tür, aber da können Sie nicht raus. Sie bleiben heute Nacht hier." Wir müssen das mit den Menschen zusammen aushalten, aber wir müssen ihnen nicht immer Lösungen anbieten, denn wir haben die Lösungen nicht.
In einem authentischen Fall aus ihrem Buch weckte ein Pfleger eine Frau, und sie sagte: „Es war schön mit dir, aber ich bin schon dem Henri versprochen. Und jetzt muss ich dich verlassen." Er antwortete: „Vorher sollten wir noch einen Kaffee trinken." Damit bestärkt er sie auch in ihrem Glauben.Ja, aber in dem Moment, wenn sie den Kaffee trinken, ist das wieder aufgelöst. Und so bleibt ihr das schöne Erlebnis. Er hätte auch sagen können: „Ich bin nicht Ihr Mann, Sie sind ja komplett verwirrt!" Dann hätte er aus der positiven Situation eine negative gemacht. Solche Erlebnisse sind Sternstunden unserer Arbeit. Sie sind zum Schmunzeln, aber nicht zum Lachen.
Nach all den Jahren, in der Sie sich mit der Demenz beschäftigen, haben Sie selbst Angst, dement zu werden?
Also, ich will die Demenz nicht bekommen, aber ich will auch keine andere Krankheit. Der Kontrollverlust würde mir wahrscheinlich am meisten Mühe machen. Zu wissen, dass ich Sachen machen werde, für die ich mich heute schämen würde. Aber es wäre für mich keine Alternative, aus dem Leben zu scheiden, weil ich es ja in den späteren Phasen nicht mehr merke. Dann brauche ich nur zu schauen, dass ich Leute um mich habe, die mich schützen.
Für den Kranken selbst ist die Demenz nur schlimm, solange ihm noch bewusst ist, dass ihm alles entgleitet?
Ja, das legt sich nachher. Das Hauptproblem haben die gesunden Angehörigen. Nämlich, wenn sie nicht mehr erkannt werden als Ehefrau oder Kinder. Viele sagen: „Ich komme nicht mehr, mein Vater erkennt mich ja nicht mehr." Ich sage dann: „Aber Sie erkennen doch, dass es Ihr Vater ist." Aber das reicht denen nicht.
Auch die gesunden Partner erkennen oft die Kranken nicht mehr wieder. Sie beschreiben im Buch, wie aus einem Gentleman, der seiner Liebsten Blumen pflückt, ein Mann wird, der im Restaurant Stoffservietten stiehlt.
Ja, er ist als Ehemann weg, aber nicht als Mensch. Nur wenn ich mir das verdeutliche, kann ich noch den Menschen lieben. Seiner Frau ist das gut gelungen. Sie war oft im Heim, aber sie hat es geschafft, die Distanz zu wahren und ihr eignes Leben zu leben.
Welche Rolle spielt das Wissen über das Leben vor der Demenz?
Wenn jemand zu uns kommt, erfassen wir, was er gern gemacht hat, wie er gelebt hat, was er will. Das ist aber schwierig, denn was in meinem Leben wirklich wichtig ist, wissen meine Kinder nicht unbedingt. Ich bin zum Beispiel im Schwarzwald aufgewachsen, meine Kinder aber in der Schweiz. Die haben keine Ahnung, wie das Leben auf einem katholischen Dorf dort kurz nach dem Krieg und nach der französischen Besatzung war. Was uns Angehörige erzählen, dürfen wir nicht eins zu eins übernehmen. Sondern müssen uns auf eine Beziehung mit dem Kranken einlassen. Als ich meine Frau kennengelernt habe, habe ich sie ja auch nicht zuerst gefragt, was sie in der Kindheit erlebt hat. Ich gehe mit dem Kranken gemeinsam vorwärts, und wenn dabei etwas auftaucht, was in der Vergangenheit begründet liegen könnte, schaue ich genauer hin. Wir fragen nicht, warum jemand etwas tut, sondern, was man tun kann, damit es ihm bessergeht.
Ist denn immer klar zu sagen, was für den Kranken besser ist?
Manchmal ist es schwer. Neulich hatten wir eine Frau, die hat angefangen, beim Füttern den Mund zuzukneifen. Wir wussten, wenn wir nichts machen, stirbt sie. Aber wir wussten nicht: Will sie nicht mehr essen, oder hat sie vergessen, wie das geht? Oder hat sie Schmerzen beim Schlucken? Wir haben uns mit ihren Söhnen besprochen und nach einem langen Abwägen für eine Magensonde entschieden. Vier Tage später aber ist sie gestorben.
Wer hat bei solchen Entscheidungen das letzte Wort? Der Patient, Angehörige oder Pfleger?
Das wird ausgehandelt. In solchen Fällen sind auch noch Berater aus unserem Ethikrat dabei. Es gibt nie eine Abstimmung, sondern immer nur einen Konsensentscheid. Wenn einer nicht zustimmen kann oder will, dann bleibt der Zustand, wie er ist.
Für viele Angehörige ist es sicher schon grundsätzlich nicht einfach, jemanden in ein Heim zu geben. Quält viele dann ein schlechtes Gewissen?
Die meisten ja. Niemand geht freiwillig ins Heim, weil man nicht abschätzen kann, was einen erwartet. Viele sagen ihren Eltern: „Ihr kommt nicht ins Heim." Aber so ein Versprechen ist Blödsinn. Wir wissen ja gar nicht, was das mal bedeuten kann. Und ob es dann im Interesse der Mutter ist, dass die Ehe der Tochter vor die Hunde geht, nur damit sie zu Hause gepflegt wird?
Wie gehen Sie mit dem Schuldgefühl der Angehörigen um?
Ich versuche immer Schuld wegzunehmen. Wie im Beichtstuhl. Ich frage auch: „Ist Ihnen schon mal die Hand ausgerutscht?" Ich sage: „So etwas kommt oft vor. Wir finden einen Weg." Und nicht: „Sie haben alles falsch gemacht!" Wenn der Patient da ist, bekommt der Angehörige auch eine psychologische Beratung. Und unser Heim muss so sein, dass der Angehörige sich wohl fühlt. Das spürt der Kranke sonst auch. Angehörige können bei uns kommen und gehen, wie sie möchten. Sie müssen sich nicht anmelden, können auch hier essen und schlafen. Wie unsere Bewohner können sie überall hin. Es gibt keine geschlossenen Türen.
Sie waren mit Ihrem Heim der Erste, der nur demente Patienten aufnahm. Wie verändern sich die Kranken, wenn sie unter lauter Demenzkranken leben?
Wir erleben in den allermeisten Fällen eine ganz große Entstressung. In dem Moment, wenn die Umwelt vom Erlebnisniveau intellektuell und emotional an den Demenzkranken angepasst ist, haben wir schnell ein besseres Leben, als wenn er zu Hause unter Stress ist, weil sich jeder über ihn aufregt. Gleichzeitig werden die kognitiven Fähigkeiten schnell schlechter. Wir begründen es damit, dass er sich zu Hause mehr anstrengen musste, um nicht aufzufallen. Und dieser Stress hält das Hirn intakt.
Werden die Patienten gar nicht mehr gefördert?
Doch natürlich. Aber nicht kognitiv. Wozu auch? Was weg ist, ist weg, und ein Dementer kann nichts Neues lernen. Aber ich kann ihm auf der Gefühlsebene immer etwas anbieten.
Das Einzelzimmer gilt in vielen Heimen als Inbegriff des Luxus, bei Ihnen gibt es oft Zweierzimmer. In den „Pflegeoasen“ liegen auch schon mal acht Personen in einem großen Raum. Wieso?
Die Krankheit macht unglaublich einsam. Und wir wollen nicht, dass sie auch noch allein macht. Es gibt bei uns drei Wohnformen: WGs für die, die eigentlich noch zu Hause betreut werden könnten, wenn sie einen gesunden Partner hätten. Die leben je nach Wunsch in Einzel- oder Zweierzimmern. Dann die in der Pflegeeinrichtung, bei denen es zu Hause nicht mehr geht. Und schließlich die mit schwerer Demenz, die im Bett in den großen Räumen der Pflegeoasen liegen. Wenn die Patienten kognitiv so schlecht sind, dass sie gar nicht mehr Kontakt aufnehmen können, ist es umso wichtiger, dass um sie herum Kontakt entsteht.
Was ist die bessere Betreuung: Daheim oder im Heim?Das darf man nicht gegeneinander ausspielen. Es gibt Menschen, die bis zum Lebensende zu Hause gepflegt werden können, weil sie nicht aggressiv sind und nicht viel rumlaufen. Aber wenn jemand viermal in der Nacht an der Türe rüttelt, weil er meint, er müsste arbeiten gehen; wenn die Frau denkt: „Hoffentlich stirbt er bald", dann geht es nicht mehr. Dann ist das Heim der beste Ort, weil dort die Infrastruktur besser ist. Diese Glorifizierung der Pflege zu Hause ist eines der großen Dramen in der Demenzgeschichte.
Wie ist Pflege zu Hause möglich?
Wenn Sie jemand zu Hause pflegen, brauchen Sie Entlastung. Regelmäßig und so früh wie möglich. Im Jahr mindestens zweimal drei Wochen Ferien.
Für Ihre Pflege sind drei Techniken sehr wichtig: Validation, basale Stimulation und Kinästhetik. Lässt sich das auch zu Hause anwenden?Ja, teilweise. Vor allem Kinästhetik, bei der es darum geht, wie man jemand bewegt. Die basale Stimulation, bei der unter anderem durch feinfühlige Lockerungsübungen das Körpergefühl wiedergeweckt werden soll, wird zu Hause eher weniger angewendet, obwohl man das auch könnte. Und Validation ist eine Kommunikationsmethode, durch die der Demenzkranke seelisch gestärkt werden soll. Darin haben wir auch schon Angehörige geschult.
Wie funktioniert die Kommunikation im Sinn der Validation?
Es geht darum, dass der Angehörige anerkennt, dass der andere die Welt nicht mehr versteht. Er muss sich von der Kommunikation verabschieden, wie er sie früher geführt hat. Er bietet ihm so die Chance, die Welt positiv zu erleben, auch ohne sie zu verstehen. Wie bei einem Kind, das mit dem Fahrrad stürzt. Wenn es weint, sage ich: „Das tut aber weh." Am Abend sage ich dann: „Gell, du hast die falschen Schuhe angehabt?" Wenn es akut ist, braucht der Mensch nur das Gefühl, dass jemand da ist, der sein Leid, seine Not teilt.
Sexualität im Alter ist ein Tabu. Man weiß gar nicht so genau, ob und was da alles noch passiert. In Ihrem Heim aber spielt sie eine wichtige Rolle.
Das gilt vor allem bei Formen der mittleren Demenz. Wenn ich mich jung fühle, habe ich auch ein anderes sexuelles Bedürfnis. Es finden sich immer wieder Paare unter den Bewohnern. Ich glaube, jeder Mensch will Beziehung. Nur sind die Strukturen oft so, dass sie es nicht ermöglichen. Bei uns lassen wir das zu, solange es nicht im öffentlichen Raum stattfindet.
Das ist natürlich in den Fällen, in denen es einen gesunden Partner gibt, nicht angenehm. Wie gehen Sie mit einem Angehörigen um, der sagt: „Ich möchte nicht, dass meine Frau einen Neuen hat“?
Das gestehen wir dem Angehörigen nicht zu. Der Ehemann hat unserer Meinung nach das Recht zu sagen: „Ich will das nicht wissen" und „Ich will nicht, dass sie mit dem andern zusammen ist, wenn ich sie besuche". Aber alles andere betrifft nur seine Frau. Wir definieren Sexualität als etwas, was dem Menschen gehört. Und nur ihm.
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