
Elvira Gerhardt: Die Angestellte der Deutschen Dienststelle (WASt) in Berlin verwaltet den Nachlass gefallener Wehrmachtssoldaten.
An seinen Großvater kann sich Klaus Juckel etwas besser erinnern als an seinen Vater. Von beiden hat er zuletzt 1945 gehört, da war er drei Jahre alt. Den Vater sah er nur in dessen Fronturlauben, der Großvater wohnte auf dem Bauernhof der Familie in Ostpreußen. Wenn der Enkel spielen wollte, führte ihn der Großvater in die Scheune, zur Kutsche, setzte sich mit ihm auf den Kutschbock, schlug mit den Zügeln, rief „Hüttehott" und vergaß darüber die Zeit, bis die Mutter sie zum Essen ins Haus holte.
Eines Tages holte der Großvater die Kutsche aus der Scheune und spannte die Pferde Lotte und Laura ein. Die Frauen packten alle Sachen zusammen. Der Donner der russischen Artillerie war keine 20 Kilometer entfernt, die Mutter konnte vor Angst nicht mehr schlafen. Da endlich erlaubte es die deutsche Führung auch den Hofbesitzern in Ostpreußen zu fliehen.
Der Großvater wollte nicht an Bord gehen
Die Familie zog im Treck nach Eisenberg, wo Kutsche und Pferde beschlagnahmt wurden, und später über das noch zugefrorene Frische Haff. Bei Königsberg starb die kleine Schwester, die kaum zwei Monate alt geworden war, an Entkräftung. In Fischhausen geriet die Familie in einen Bombenangriff. Schließlich gelangten sie auf die Halbinsel Hela. Das Dampfschiff Ubena sollte sie nach Dänemark bringen.
Nur der Großvater ging nicht an Bord. „Lieber lass ich mich vom Russen erschießen, als dass ich in der Ostsee ertrinke." Vielleicht wollte er mit 69 Jahren die Heimat nicht mehr verlassen, vielleicht war er schon zu verwirrt. Kurz vor der Abfahrt sah ihn die Tante in den Dünen. Da erkannte er sie nicht mehr. Juckel weiß das nur aus der Erzählung seiner Mutter. Im Flüchtlingslager in Dänemark fragte er: „Wo ist der Opa?" Es sollte 62 Jahre dauern, bis Juckel darauf eine Antwort bekam. Er fand in seinem Briefkasten einen Brief, und er sagt, dass da sein Herz hüpfte.
Die unbekannte Behörde
Wenn Gerhardt auf einen AB spricht, ruft nie jemand zurück
Wenn Elvira Gerhardt nach draußen telefoniert und auf dem Anrufbeantworter den Namen ihrer Behörde hinterlässt, ruft meist keiner zurück. Die Behörde sei eben recht unbekannt. Dabei haben die Angestellten auch 70 Jahre nach Kriegsende viel zu tun: Wenn Gebeine deutscher Soldaten gefunden werden, helfen sie die Toten zu identifizieren, anhand der Erkennungsmarken und mit Hilfe langer Listen. Sie benachrichtigen die Angehörigen und sorgen dafür, dass Sterbeurkunden ausgestellt werden. Sie unterstützen aber auch Kinder deutscher Besatzungssoldaten dabei, ihre Väter zu finden, und Staatsanwälte, Kriegsverbrechen aufzuklären.
Jeder kann sich an die Dienststelle wenden, der etwas über seine Vorfahren wissen möchte: In welcher Einheit hat er gedient? Wurde er verwundet? Geriet er in Gefangenschaft? Wo ist er begraben? Im Durchschnitt gehen jedes Jahr immer noch 35.000 solcher Anträge ein. Als 2013 das Weltkriegs-Familiendrama „Unsere Mütter, unsere Väter" im Fernsehen lief, waren es noch 10.000 mehr.
Etwa 5000 Nachlässe ohne ErbenManchmal meldet sich die Stelle auch von sich aus bei den Bürgern. Oft ist es Elvira Gerhardt, denn sie ist Sachbearbeiterin für Nachlässe. Wenn etwas von Wert bei einem toten Wehrmachtssoldaten oder auf einem Dachboden in den ehemaligen besetzten Gebieten gefunden wird, landet es in ihrem Büro: Taschenuhren, Alben, Zigarrenetuis, Ringe, Rosenkränze, mal ein Felltornister, mal ein Fotoapparat. Im grün-grauen Regal sind die Karteikarten, die für jeden Nachlass angelegt werden, im hellgrauen Regal steht in Aktenordnern der Schriftwechsel mit Behörden und möglichen Erben. In den Schränken lagern in Papiertüten die etwa 5000 Nachlässe, für die noch keine Erben gefunden wurden. Auch der Brustbeutel aus Leinen, mit „Juckel" beschriftet, lag hier einmal.
Im Januar 1950 traf er in der Dienststelle ein. Darin: eine runde Drahtbrille mit Etui, eine Uhrenkette, ein Foto junger Soldaten („Weihnachten 1939 in Polen"), ein Foto einer Frau in gestreifter Bluse, einige Reichspfennige, ein Ehering, ein Impfpass. Und ein Totenschein: Albert Juckel, am 3.Dezember 1945 an Lungenentzündung und Herzversagen in einem Flüchtlingslager im dänischen Aarhus verstorben. „Im Lager anwesende nächste Angehörige: keine." Deswegen hatte man den Nachlass zur Dienststelle geschickt, obwohl Albert Juckel kein Soldat war. Sachbearbeiter legten die Karteikarte J1363 an und begannen mit der Suche nach den Erben.
Detektivarbeit, die Jahrzehnte dauert
Auf der Karteikarte kann man das noch nachvollziehen. Es beginnt mit „Anfr. Archiv Dahlem 8.6.51" und endet vorläufig 1952, ohne dass ein Erbe gefunden wurde. Danach verschwand die Karte in einer Pappschachtel und der Beutel im Schrank. Irgendwer holte den Vorgang 1955 wieder hervor. Bis 1970 arbeiteten mehrere Angestellte über zwei Dutzend Anfragen ab: bei Kreisbehörden, kirchlichen Suchdiensten, Privatpersonen. Stets „neg.", ohne Erfolg. Sie hätten den Nachlass aus der Kartei austragen können. Dann wären Juckels Sachen zu den aussortierten Brillen, Ringen und Fotos gelegt worden. Aber Elvira Gerhardts Vorgänger hatten wohl noch Hoffnung und ließen den Beutel im Schrank. Letzter Eintrag: 1994, Anfrage beim kirchlichen Suchdienst, Lübeck, „neg."
Elvira Gerhardt, die seit der Wende hier arbeitet und die Detektivarbeit liebt, fiel im Jahr 2007 der Impfpass auf: Geburtsort Birkenheim. Ein kleines Dorf in Ostpreußen, 1945 nicht mehr als 120 Einwohner. Vielleicht gab es noch andere Juckels dort. Ihre Vorgänger hatten das nur schwer prüfen können. Es gibt knapp 450 Akten zum Namen Juckel, die an verschiedenen Stellen in der Behörde aufbewahrt werden. Mit dem Computersystem fand Gerhardt nun Bruno und Benno Juckel aus Birkenheim, beide zur Wehrmacht eingezogen, der eine vermisst, der andere gefallen. Beide kamen somit als Erben nicht in Frage. Und doch brachten sie Gerhardt weiter.
„Ich war ganz aufgewühlt"Denn die Dienststelle ist kein Archiv, sondern eine Behörde. Kein Dokument wird bloß aufgehoben. Selbst auf einer Karteikarte von 1939 wird weiter gestempelt, eingetragen, unterschrieben, abgehakt. Auch jede Anfrage von außen wird vermerkt. Auf der Karte des vermissten Benno Juckel liest Gerhardt: „2001 Anfrage von Sohn Klaus Juckel." Im Juli 2001 war Klaus Juckels Mutter gestorben, mit der er die meiste Zeit seit der Flucht aus Ostpreußen zusammengelebt hatte. Vier Monate später schrieb er der Dienststelle, weil er mehr über seinen Vater erfahren wollte, der seit Januar 1945 als vermisst galt. „Früher habe ich nie viel gefragt", sagt Juckel. „Da reichte es mir, was meine Mutter und Tante von sich aus erzählten."
Damals konnte die Dienststelle Juckel nicht viel mitteilen. Aber nun, 2007, schrieb ihm Elvira Gerhardt, ob er mit dem verstorbenen Flüchtling verwandt sei. Antwort: Möglicherweise. Sein Großvater heiße Friedrich Albert Juckel und sei in Birkenheim, Ostpreußen, an einem 4. August geboren. Doch das Jahr stimme nicht. Elvira Gerhardt kopierte die Fotos aus dem Nachlass, schickte sie an Klaus Juckel, er schickte sie zurück, das Bild „Weihnachten 1939 in Polen" mit einem Pfeil markiert: „Mein Vater Benno Juckel". Er erkannte ihn sofort. Das gleiche Foto besitzt er auch. Wie der Großvater am Ende doch noch nach Dänemark kam? Das wissen Elvira Gerhardt und Klaus Juckel nicht. Aber es ist der Großvater, ohne Zweifel.
Ein paar Tage später holte Klaus Juckel den Nachlass aus der Post. „Ich war ganz aufgewühlt", sagt er. „Wir dachten ja nie, dass wir noch mal etwas von ihm hören würden. Meine Mama wäre aus dem Häuschen gewesen."
62 Jahre später hält er ein Packet in den Händen
Juckel holte die Brille aus dem Paket und setzte sie auf. Die Gläser sind noch heil, aber er sah nichts, denn der Großvater war weitsichtig, er ist kurzsichtig. Dann der Ehering mit dem Verlobungsdatum der Großeltern, die Fotos, die Uhrenkette, die letzten Sachen, die seinem Großvater gehörten. Dem Großvater, mit dem er damals in der Scheune gespielt und „Hüttehott" gerufen hatte, damals auf dem Hof in Birkenheim, wo heute nur Acker ist und kein Haus mehr steht.
„Das war sehr bewegend", sagt Klaus Juckel. „In mir steckt ja diese ostpreußische Mentalität, dass ich so leicht melancholisch werde." Deswegen schrieb er an Elvira Gerhardt: „Abschließend möchte ich Ihnen, sehr geehrte Frau Gerhardt, für Ihre Ermittlungen nach den Angehörigen meines Großvaters herzlich danken!" Elvira Gerhardt hat sich über den Brief sehr gefreut. Und sie hat ihn aufgehoben. Mit einem roten Eingangsstempel und ihrem Kürzel versehen, ist er im Ordner „Dankesschreiben" abgeheftet.