Christine Wollowski

Brasilien Korrespondentin, Berlin

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Reportage

Strom für alle

Wer auf den Spuren von Jules Verne auf dem Amazonas unterwegs ist, verfällt unweigerlich der Magie dieses Flusses



Am Anfang war alles eins. Menschen, Tiere und Pflanzen sprachen die gleiche Sprache, eines konnte sich in das andere hineinversetzen, alles war Harmonie. So erzählt es der Kazique Gui Dessano. So ähnlich steht es auch in der Bibel. Am Rio Negro im Amazonasgebiet ist bis heute zuweilen alles eins: Bei Sonnenuntergang liegt der Fluss still wie ein See, Baumriesen und Sonnenstrahlen spiegeln sich darin. Vögel rufen heiser, Frösche knattern, Grillen singen. So friedlich wirkt das, als gäbe es den Menschen nicht auf der Welt.

 

Der Amazonas und der Regenwald beflügeln seit jeher die Phantasie. Die unendliche Weite des Flusses, die unendliche Vielfalt des Lebens und der Mythen im Wald. Beides scheint näher am ursprünglichen Paradieszustand als irgendein anderer Ort der Welt. Nach der Legende der Dessano sind die Menschen irgendwann in einer Riesen-Anakonda aus der geistigen Welt in die materielle geschlängelt. Da war es vorbei mit der Harmonie: jede Spezies und sogar jedes Volk sprach seine eigene Sprache. 

 

An diesem regnerischen Spätnachmittag leuchten Fackeln in der Abenddämmerung am Ufer des Rio Negro, einem der wichtigsten Zuflüsse des Amazonas. Ein schmaler Weg führt zu einer palmwedelgedeckten Hütte, an deren Front die große Anakonda gemalt ist. Kazike Gui erwartet die Gruppe Flussreisender am Steg, mit Federkopfschmuck und einer Kette mit dem Zahn eines Jaguars. Die Bergüßung ist in Tukano, der Sprache seines Volkes. Die Besucher lauschen gespannt - und noch gespannter, als Gui seine Rede anschließend auf Portugiesisch wiederholt. Was anderswo oft peinlich wird, der Besuch von Fremden in indigenen Dörfern, nimmt hier eine neue Wendung: Menschen begegnen Menschen - auf Augenhöhe, mit Identität und Kultur –, anstatt einem exotischen Fotomotiv. Wenn der Kazike die Touristen als „Gemeinschaft der Besucher“ anspricht, klingt das nach Ehrerbietung.

 

Bis Gui die Schöpfungsgeschichte fertig erzählt hat, ist es dunkel geworden. In der Hütte flackern kleine Feuer, die nach Baumharz duften. Frauen in Baströcken und Federschmuck und Männer mit Lendenschurz aus Blättern sitzen auf groben Holzbänken. Gui erklärt: Sein Volk werde den Besuchern jetzt Gesänge und Tänze darbieten. Nicht als Folkloreshow. Es sind Gesänge und Tänze, wie sie bei traditionellen Festen den Besuchern aus anderen Dörfern gezeigt werden. Das Volk der Dessano spielt dabei handgemachte traditionelle Instrumente, Rasseln aus Baumsamen an Hand und Fußgelenken, eine Art Didgeridoo, das dunkle Töne zaubert, eine zarte Panflöte, Trommeln. Im Schein der Flammen entstehen bei den uralten Tönen magische Momente, in denen die Menschen mit der Natur zu verschmelzen scheinen, wie zu alten Zeiten.

 

Natürlich ist das eine Ausnahmesituation. Im Alltag drängt es auch die Jugend der Dessano zu Handy und Social Media und insgesamt in die moderne Zivilisation. Gui, der von Weißen auch Francis Vaz genannt wird, versucht nicht, das zu verhindern. Er legt nur Wert darauf, dass alle ihre Wurzeln bewahren. Jedes Kind spricht die indigene Sprache, lernt Lieder, Rhythmen und Tänze. Die Begegnungen mit den Fremden bringen Einnahmen für das Dorf, und sie fördern den Stolz auf die indigene Kultur, die den Touristen eine Reise wert ist. Beinahe wehmütig verabschiedet sich die Gruppe nach einem lebhaften Austausch mit den Dorfbewohnern und tuckert im Mondschein zurück zum klimatisierten Komfort des Kreuzfahrt-Katamarans. 

 

Am nächsten Tag erwachen die Passagiere der La Jangada vom Donnern der Regenmassen, die auf das Schiff prasseln. Draußen ist zwischen bleigrauem Himmel und blaugrauem Wasser kein Horizont erkennbar. Als der Kapitän nach dem Frühstück die Maschinen startet, scheint es, als führe die Reise in eine unwirkliche andere Welt. An einem schmalen Steg wird Anker geworfen, am Ufer stehen in einem Kautschukwald ein verwittertes Herrenhaus und weitere Holzbauten. Eine ehemalige Filmkulisse, die eine Farm aus den Zeiten des Kautschuk-Booms nachbildet, in denen Manaus zu den reichsten Städten der Welt gehörte. Damals ließen die wohlhabendsten Familien ihre Weißwäsche in Portugal waschen, weil das Amazonaswasser trüb wie Schwarztee ist. Privatlehrer und Mode kamen aus Frankreich, das den Ton in allen Stilfragen angab. Im Haupthaus zeugen ein Piano, handgeklöppelt Spitzenvorhänge und feines Porzellan von der ersehnten feinen Lebensart. Tatsächlich war in der Abgeschiedenheit der Farmen der Wille des Farmbesitzers Gesetz, und Zartfühligkeit eher selten.

 

Im farmeigenen Kramladen ist ausgestellt, was zum Lebensnotwendigen gehörte: Stoffballen, Seile, Öllampen, Schnaps. In einem dicken in Wachspapier gebundenen Buch stehen bis heute die Schulden der Arbeiter verzeichnet, die sie zeitlebens nicht loswurden. Angeworben aus den ärmsten Gegenden des Nordostens, folgten sie den Versprechungen auf Wohlstand in der Kautschukproduktion. Tatsächlich kamen sie bereits verschuldet auf den Farmen an, weil ihnen der Farmer für Anreise, Arbeitskleidung und -geräte saftige Rechnungen stellte. Als Unterkunft mussten sie sich selbst einen einfachen Hochstand zimmern, auf dem sie dicht an dicht in Hängematten schliefen immerhin vor dem Angriff von einigen der Wildtiere geschützt. In der winzigen Kapelle hängen in ungeschickter Handschrift verfasste Bittbriefe an die Heiligen. Wie drückend die Atmosphäre damals gewesen sein mag, lässt sich an diesem kühlen Regentag leicht erahnen. Als später das Schiff langsam Kurs aufnimmt, färbt das Mondlicht die Heckwelle silbern, Bäume recken ihre Äste wie schwarze Arme in den tiefblauen Himmel, an dem zartrosa Wolkentürme treiben.

 

Die Magie der Landschaft, die tragischen Geschichten und fremden Mythen, all das trägt dazu bei, dass eine Flussfahrt auf dem Amazonas nicht irgendeine Reise ist, sondern für viele ein Lebenstraum. Für Bernard Ramus mag das ähnlich gewesen sein, als er vor Jahrzehnten zum ersten Mal auf der großen Lebensader des Waldes unterwegs war. Seitdem lässt der Fluss den Franzosen nicht mehr los. Viele Jahre und viele Meilen ist der heute 73Jährige auf den Gewässern des Regenwaldes gereist, bevor er aus seinen Erfahrungen und Begegnungen eine Pauschalreise geschneidert hat, die so wenig pauschal ist, wie der Abenteurer selbst. Selbst die kürzeren Ausflüge meiden die üblichen Touristen-Klischees. Die große Tour der „La Jangada“ auf den Spuren des gleichnamigen Romans von Jules Verne dauert ganze 13 Tage und führt von Manaus 800 Meilen flussaufwärts bis nach Tabatinga an der Grenze zu Peru. Kein anderes Kreuzfahrtschiff wagt sich so viele Meilen flussaufwärts wie Ramus‘ La Jangada. So weit draußen gibt es keine Agenturen, die Logistik und Termine koordinieren würden. Stattdessen Unvorhersehbares an jeder Flussbiegung: Veränderungen im Flussbett, starke oder fehlende Regenfälle, umgestürzte Bäume. Und die Chance auf Begegnungen mit indigenen Völkern, die sich den Weißen nur nähern, weil Bernard Ramus mit ihrem Stammesführer befreundet ist. Oder mit Wäldern, in denen die Tiere menschliche Präsenz auch im 21. Jahrhundert nicht gewohnt sind. Ramus schwärmt: „Die Orte sind teilweise heute noch so, wie sie Verne im 19. Jahrhundert beschreibt“. Er habe sich immer von seinen Träumen leiten lassen: „Das Leben besteht aus Ideen“. Sein Leben bewegt sich zwischen höchst gegensätzlichen Ideen und Kontinenten. Das Studium der Politikwissenschaft in Frankreich ließ er mit Anfang Zwanzig hinter sich, um in Sao Paulo eine Model-Agentur zu gründen. Später pflanzte er Mais-Irrgärten in Frankreich. Jetzt fährt er mit der La Jangada, die nach seinen Entwürfen gebaut ist, durch Amazonien. Während Ramus von den verschlungenen Wegen seines Lebens erzählt, bewegt sich die La Jangada gemächlich durch den Igapó:  Schwemmwald, der den größten Teil des Jahres unter Wasser steht. 

 

Die Waldform des Igapó entstand vermutlich vor mehr als 60 Millionen Jahren im Tertiär. Seitdem haben sich Pflanzen und Tiere an die nasse Lebensform angepasst. Bäume, die direkt aus dem metertiefen Wasser wachsen, muten für europäische Beobachter reichlich seltsam an. Die Stämme erreichen selten mehr als 20 Meter Höhe, auf ihnen wachsen Lianen, Bromelien und Orchideen. In ihren Wipfeln wohnen Affen und Vögel, sogar Jaguare verbringen hier ihr Leben teilweise auf Bäumen und jagen von den unteren Ästen aus nach den saftigen Tambaqui-Fischen. Besucher schätzen es, dass der saure PH-gehalt des Wassers den Moskitos nicht gefällt, doch Im nährstoffarmen Schwemmboden gedeihen auch weniger Fruchtbäume, sodass für die Tiere an den Ufern des Rio Negro weit weniger Nahrung verfügbar ist, als auf dem Amazonas. 

 

Kein Wunder, dass die Totenkopfäffchen sich mit den Menschen angefreundet haben. Sekunden, nachdem der Guide ein paar Bananen auf dem Bug des Boots platziert hat, lugen schon die ersten Neugierigen zwischen den Blättern hervor. Dieser Flussabschnitt gehört zum Gebiet der ersten Luxus-Dschungel-Lodge Brasiliens, die Affen sind seit Generationen auf Bananengeschenke konditioniert. Manche schnappen sich frech die Frucht und verschwinden gleich wieder. Andere gucken neugierig, schälen sie mit dem Maul, verschlingen das erste Stück, und trippeln dann mit ihrer Beute auf einem brüchigen hölzernen Laufsteg davon. Auch Helmut Kohl und Jennifer Lopez sind schon auf diesem Steg flaniert - vor Jahrzehnten in der Blütezeit des berühmten Ariau Amazon Tower Hotels.  Mit sechs auf Stelzen in die Baumkronen gebauten Wohntürmen und acht Kilometern Spazierwegen auf Stelzen verwirklichte der Anwalt Francsico Ritta Bernardes hier in den 1980er Jahren seinen Traum vom Luxus-Naturerlebnis. Nach dessen Tod wurde das Hotel 2015 geschlossen und erinnert seitdem in seinem Verfall an die Vergänglichkeit aller Träume. 

 

In der Abenddämmerung erwachen erneut die Stimmen des Urwalds. Wie Sturmböen klingt das Fauchen der Brüllaffen, Araras lassen ihren gellenden Ruf ertönen, Frösche quaken knarzend wie eine klemmende Tür. Der Mond leuchtet goldgelb über dem Wasser, Lampions erhellen das Deck der La Jangada, auf der die Wildnis nah genug ist, um sie zu genießen und weit genug entfernt, sie nicht fürchten zu müssen. Irgendjemand stellt die Frage: “Ist es nicht eigentlich verwerflich, hier romantische Abende zu verbringen, während der Regenwald auf den Punkt der unumkehrbaren Zerstörung zutreibt?“ Vielleicht. Vielleicht funktioniert die Überlegung aber auch andersherum, und wer in den Regenwald so erlebt hat, versteht auf einer tieferen Ebene, dass der Wald überleben muss, damit wir überleben. 


Foto: Dennis Schmelzer

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 17.10.2022