Christine Wollowski

Brasilien Korrespondentin, Berlin

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Reportage

Zeit für einen anderen Blick

Ein Stück Afrika in Brasilien: Salvador da Bahia ist geprägt vom Erbe der Sklaverei. Das sieht man am besten durch die Augen der Einheimischen

 



Sehen wir auf Reisen nur, was wir bereits vorher wissen? Reproduzieren dabei Bilder, die wir anderswo gesehen haben? Im Zweifelsfall sogar vom Rassismus geprägte? Das vielleicht beliebteste Fotomotiv im historischen Stadtzentrum von Salvador da Bahia ist der Largo do Pelourinho mit seinem buckeligen Kopfsteinpflaster und der zartblauen Barockkirche, eingerahmt von bunten Fassaden schmaler Kolonialhäuser. Auf einem Großteil der Werbung für die Stadt taucht er ebenso auf wie auf den Erinnerungsfotos der Touristen. 

Was diese Bilder nicht zeigen: Auf dem heute so fotogenen Platz wurden drei Jahrhunderte lang versklavte Afrikaner verkauft. Mehr als eine Millionen Menschen wurden nach Salvador verschleppt, überwiegend aus dem heutigen Nigeria und Angola. Mit ihnen kamen Traditionen, Glaube, Musik, Koch- und Volkskunst. Afrikanische Einflüsse haben den Pelourinho mehr geprägt als die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Kolonialarchitektur. Mehr als 80 Prozent der Bewohner der ersten Hauptstadt Brasiliens bezeichnen sich selbst als schwarz – Salvador gilt als die afrikanischste Stadt außerhalb Afrikas. Und was nehmen Touristen von ihr wahr? Viel zu sehr die Sichtweise der Kolonialherren und viel zu wenig die Sicht der Schwarzen, findet die Fremdenführerin Sayuri Koshima. Die Anwältin hat vor zehn Jahren aus Leidenschaft zum Tourismus gewechselt und sagt: „Ich habe die offizielle Geschichtsschreibung schon immer infrage gestellt“. 

Ein paar Hundert Meter vom Largo do Pelourinho entfernt, drehen ein Dutzend Menschen der berühmten Kirche Igreja de Sao Francisco mit ihrem verschwenderisch vergoldeten Interieur den Rücken zu. Stattdessen schauen sie auf die schlichte Fassade eines dreistöckigen Hauses schräg gegenüber. Hier hat die Sociedade Protetora dos Desvalidos, kurz SPD, ihren Sitz, erklärt Sayuri Koshima: eine zu Zeiten der Sklaverei gegründete Bruderschaft freier Schwarzer. Mit ihrer freiwilligen Arbeit und ihren Spenden baute sie eine Art Rentensystem auf, vergab günstige Kredite und kaufte versklavte Personen frei. „Viele Menschen glauben ja, dass Sklaven grundsätzlich Analphabeten waren, das ist ein großer Irrtum!“, sagt die Präsidentin der SPD, Regina Celia mit Stolz auf ihre philanthropischen Vorfahren. 

Im Gegensatz zu den Großtaten der Kolonialherren werden die Meriten schwarzer HeldInnen kaum gefeiert. Vor dem in Rosé gestrichenen Gebäude der Medizinischen Fakultät erzählt Koshima deswegen von Juliano Moreira. Der Sohn einer Hausangestellten wurde schon als 14-Jähriger an der Universität aufgenommen und entwickelte lange vor Freud psychotherapeutische Theorien. „Nie hätte ich gedacht, dass ein schwarzer Psychiater als erster an eine Humanisierung der Psychiatrie gedacht hat!“, kommentiert die italienische Juraprofessorin Fiammetta Bonfigli nach der Tour. Und der deutsche Projektmanager Cornelius Kobelka ist überzeugt: „Mein Blick ist jetzt geschärft für das Thema struktureller Rassismus“.

Die Idee zur Tour Negra stammt von Guilherme Dias, der zunächst in Sao Paulo Walking Tours begleitete. „Dabei wurde die Geschichte der Schwarzen einfach nicht erzählt“, berichtet der 35-Jährige Journalist. Also nahm er die Sache selber in die Hand und führte einen „Guia Negro“ durch Sao Paulo ein, bald darauf einen weiteren für seine Wahlheimat Salvador. „Ich halte nicht an den traditionellen Sehenswürdigkeiten, sondern besuche etwa das Museum Memorial da Baiana. Denn obwohl die Baianas überall präsent sind, werden sie kaum wertgeschätzt“, erklärt Dias. Die ersten Baianas verkauften ihr Acarajé, die frittierten Bohnenbällchen mit Füllung, noch zu Ehren der afrikanischen Göttin Iansa. Heute arbeiten ihre mehr als 4000 Nachfahrinnen in Reifröcken und Turban auch als Modell für Erinnerungsfotos oder locken Urlauber in Souvenirläden. Im Job überlächeln sie strahlend eine oft harte Realität: Die Einnahmen reichen nicht zum Leben, das Reduziert-Werden auf ein Stereotyp nagt an der Seele. Gut zwei Dutzend Baianas nehmen an einem Unterstützungs-Programm der SPD teil – sie bekommen Lebensmittelpakete, werden über Menschenrechte aufgeklärt und finden Menschen, die ihnen zuhören. „Letztens haben wir einige gefragt, was sie im Leben glücklich macht – keine wusste eine Antwort“, erzählt Regina Célia.

„Touristen sehen in Salvador immer noch vor allem die Stereotype“, urteilt der Journalist Antonio Pita, der auf der Plattform Diaspora black schwarze Unternehmen und Initiativen vorstellt. Ob Baianas, Capoeira-Spieler, Tänzer in den Folkloreshows oder Gläubige in den Tempeln der afrobrasilianischen Religion Candomblé: selten entstünde ein echter Kontakt, ein tiefergehendes Verständnis. Besonders der Candomblé übt mit der farbenfrohen Kleidung der Gläubigen, den mitreißenden Rhythmen und fremdartigen Riten eine große Faszination auf Besucher aus. Manche Priester akzeptieren zahlende Zuschauer, die während der Feste in einer abgetrennten Ecke bleiben müssen. In sogenannten Kulturshows führen professionelle Tanzgruppen stilisierte Versionen religiöser Szenen auf und stellen typisierte Gottheiten dar. „Ich bin gegen diese Art Folklore, ich begleite meine Kunden lieber tagsüber zu den Tempeln, damit sie am Alltag teilnehmen können“, erklärt Nilzete Santos, Gründerin der Tourismusagentur Afrotours. Bei diesen Besuchen erklärt sie das Leben im Terreiro, wie das Tempelgelände genannt wird, ermöglicht Gespräche, zeigt den Kräutergarten. Oft können die Besucher sogar ein reinigendes rituelles Bad nehmen.

Diese Art authentischer Erlebnisse ist zunehmend gefragt. Auch konventionelle Reiseveranstalter bieten inzwischen Schnupper-Capoeira-Stunden oder einen Trommelnachmittag an. Manche Kunden sind auf der Suche nach eigenen afrikanischen Wurzeln. Andere zieht einfach der Ruf Salvadors als „schwarze Stadt“ an. Das große Potential hat auch die Regierung erkannt und noch vor der Pandemie einen „Afro-Plan“ für den Tourismus entwickelt, der jetzt umgesetzt werden soll. „Wir werden Salvador als schwarze Welthauptstadt positionieren“, erklärt Tourismussekretar Fabio Motta, Angehöriger der weißen oberen Mittelschicht, „das Produkt haben wir schon, wir müssen es nur noch vermarkten.“ Zielgruppe seien vor allem amerikanische Schwarze, die „große Summen auf ihren Reisen ausgeben“. Motta spricht davon, spezielle Ethno-Touren durch die Stadt zu entwickeln, schwarze Unternehmer für den globalen Markt zu qualifizieren und verhandlungssicher zu machen. Schwarze bräuchten mehr Schulungen, um sich zu Protagonisten zu entwickeln, meint er und verspricht: „Das nehmen wir jetzt in die Hand.“

„Wir können eine ganze Menge Sachen gut“, kommentiert Monica Tavares trocken und ergänzt: „Angesichts der Bewegung des Black Money, bei dem Schwarze bevorzugt von Schwarzen kaufen, unserer Besetzung des Territoriums hier auf dem Pelourinho und anderer Initiativen kann die Regierung gar nicht anders, als auf dieser Welle mit zu schwimmen.“ Tavares ist seit ihrem 16. Lebensjahr Unternehmerin. Die 45-Jährige kommt aus der Peripherie Salvadors und hat sich Buchhaltung und Mitarbeiterführung selbst beigebracht. In ihren Läden sind alle Angestellten schwarz, Afrolook ist erwünscht und das Dekor ist auf schwarze Repräsentativität ausgerichtet: Im Restaurant Roma Negra (Schwarzes Rom), das Edelgastronomie mit afrikanischen Einflüssen zu bezahlbaren Preisen anbietet und deren Teilhaberin sie ist, ist eine ganze Wand mit Porträts schwarzer Persönlichkeiten bedeckt. „Das hübsche Postkartenbild des Pelourinho lebt eben auch von den Slums drumherum, von der Musikalität der Bewohner dort, von ihrem Gang, ihrer Mode, ihrer Persönlichkeit. Das lässt sich nicht einfach ausblenden.“

Die neuen schwarzen Akteure bringen wie nebenbei den Candomblé sichtbar in den Alltag zurück. Am Ausgang des Roma Negra etwa steht eine Statuette des Kriegsgottes Xangó zusammen mit ein paar Kerzen als Opfergaben. Ein paar Straßen weiter wacht ein weiterer streng blickender Xangó in Ebenholzschwarz vor einem Souvenirladen. „An dem haben sich schon viele Leute gestört, aber der Xango bleibt hier! Ihm habe ich es zu verdanken, dass mein Geschäft läuft“, sagt der Ladeninhaber und Holzschnitzer Sandro Pereira de Oliveira selbstbewusst. Der Zwei-Meter-Mann lebt und arbeitet seit Kindertagen auf dem Pelourinho, erst als Lastenträger auf dem Markt, inzwischen als Inhaber von zwei Läden, demnächst will er ein Restaurant eröffnen. Sein Hinterhof, in dem er mit zwei Angestellten Holzfiguren der Orixás genannten Gottheiten schnitzt, grenzt an den Laden „Botica Rhol“, in dem Sueli Conceicao afrikanische Mode und Naturkosmetik mit Auszügen aus in Candomblé-Tempeln gepflanzten Kräuter verkauft. „Ich halte es nicht für verkehrt, unsere Kultur zu vermarkten“, sagt die 45-Jährige, „aber bislang geschieht das noch zu oft, indem die schwarzen Akteure zu Objekten und die Kultur zu Folklore degradiert werden“. 

Bisher haben sich vielleicht ein gutes Dutzend schwarzer Unternehmer im Herzen des Pelourinho etabliert. Aber sie stehen für einen Paradigmenwechsel. Wie sagt Restaurantbesitzerin Monica Tavares: „Wir erobern uns unseren Platz zurück!“ 


Foto: Christine Wollowski

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung