Christine Wollowski

Brasilien Korrespondentin, Berlin

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Reportage

Krieg gegen die Armen

Es war ein vielversprechendes Projekt. Speziell ausgebildete Polizisten sollten für Ruhe in den Favelas von Rio de Janeiro sorgen. Ein Jahr nach den Olympischen Spielen ist die Situation schlimmer als zuvor.



Daniella Gonzo Carlos hat an die Wende geglaubt. Die 25Jährige hat in der Favela Cidade de Deus in Rio de Janeiro eine Boutique aufgemacht, als das Befriedungsprogramm angelaufen war. Mit gläsernem Schaufenster, genau gegenüber dem einstigen Drogenumschlagplatz. „Ich schlafe gut dabei“, hat sie stolz gesagt. Das war im Jahr 2010.

 

Damals lief das Projekt der Befriedungspolizei in einigen Favelas von Rio seit zwei Jahren, und Statistiken verzeichneten dort weniger Schießereien und mehr Geschäftseröffnungen. Der Sicherheitschef von Rio de Janeiro, José Beltrame wurde von  Gouverneur Sergio Cabral unterstützt, bekam sogar Bundesgelder zugewiesen. Durch ständige friedliche Polizeipräsenz sollten die UPPs immer mehr Slums dem Würgegriff der Drogengangs entziehen. Skeptiker prophezeiten: „Das ist nur ein Make-up für die Großevents, nach Olympia ist wieder alles beim Alten.“

 

Tatsächlich ist ein Jahr nach Olympia nicht alles beim Alten, sondern schlimmer. Ausgerechnet am Jahrestag der Eröffnung der Spiele fand eine konzentrierte Militäraktion in sechs Favelas statt, wo Fraktionen der  Drogenmafia die Macht nie abgegeben oder wieder übernommen hatten. In immer mehr Armenvierteln üben Milizien Terror aus, die sich vor allem aus Polizisten in Zivil zusammen setzen. Der Staat, weit entfernt davon, die Kontrolle auszuüben, ist bankrott. In Krankenhäusern fehlen Ärzte und Medikamente, in Schulen das Lehrmaterial. Viele Staatsangestellte, darunter Polizisten, bekommen weder Überstunden, noch das dreizehnte Monatsgehalt ausbezahlt. Ein Drittel der 10.000 in UPP-Gebieten beschäftigten Polizisten sollen demnächst eingespart werden.

 

Die als friedlich und kooperativ gedachte Polizeipräsenz in den Armenvierteln hat in der Praxis ohnehin nicht so funktioniert, wie vorgesehen. Es wurden kaum speziell trainierte Neulinge eingestellt, die einen neuen Umgangston mit der Bevölkerung anschlagen würden. Die versprochenen Sozialprojekte, idealerweise an die UPPS angegliedert, sind nicht gekommen. „Die Pleite des Großunternehmers Eike Battista hat das Projekt enorm geschwächt“, erklärt der Soziologe Livio Santos de Oliveira. „Battista wollte jährlich 20 Millionen Reais in UPPs stecken. Außerdem gab es Probleme mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit, nachdem in diversen Fällen UPP-Polizisten mit dem Tod von Zivilisten in Verbindung gebracht wurden.“

 

„Die UPPs haben eine Wirkung gezeigt, wenn auch nur kurz “, sagt die Anthropologin Alba Zaluar, die seit fast vierzig Jahren das Phänomen der Gewalt in Brasilien untersucht. „Aber das Problem lässt sich nicht lösen, indem wir Jagd auf einzelne Drogenhändler machen, wir brauchen großangelegte Untersuchungen! Wir wissen nichts über dieses riesige Netz der Drogenmafia – wir wissen nicht, wer mit wem paktiert, oder welche Verbindungen zur kolumbianischen Farc und zur italienischen Mafia bestehen! Außerdem müssen wir der Jugend in den Favelas ein neues Männerbild nahebringen, den Jungen klar machen, dass Mann-Sein nicht bedeutet, eine Waffe am Gürtel zu tragen und wild um sich zu schießen – wie es leider häufig auch die Polizei tut.“

 

Heute sind Schießereien, die durch die Befriedung verhindert werden sollten, längst wieder an der Tagesordnung: Jeden Tag bleiben mindestens 20 Schulen wegen Schusswechseln geschlossen. Jeden zweiten Tag stirbt dabei ein Polizist, und Polizistenkugeln töten – so berichtet die Zeitung Folha de Sao Paulo - täglich drei Menschen, darunter Kinder in der Schule oder auf dem Rückweg vom Kindergarten. Die Fakten lesen sich wie eine Kriegsstatistik. Auch wenn vor allem die Mittelschicht über die mangelnde Sicherheit der Stadt klagt: Tatsächlich schießen Arme auf Arme. Es sterben überwiegend junge, arme, schwarze Männer in den Slums. Nicht immer im Drogenkrieg, oft durch Querschläger oder sogar Kugeln aus Polizeiwaffen. Offiziell lautet die Erklärung für tote Zivilisten generell: Notwehr. Noch in der 1990er Jahren hatte ein Gouverneur den Beamten eine „Wildwest“-Prämie gezahlt, wenn sie beim Einsatz in Slums möglichst viele Menschen töteten. „Unter dem Deckmantel der öffentlichen Sicherheit geschieht hier ein Genozid “, sagte die Vorsitzende des Dachverbands der Favela-Bewohner von Rio der Tageszeitung „Estadao“.

 

Fakt ist: der Versuch, mit Gewalt Frieden in die Stadt zu bringen, ist gescheitert. „Die Beziehung zwischen Militärpolizei und armer schwarzer Bevölkerung ist in Brasilien traditionell von Gewalt geprägt, und Teile der Mittelschicht finden Gewalt durchaus akzeptabel, solange sie für ihre eigenen Interessen eingesetzt wird “, sagt Soziologe De Oliveira. „Es reicht nicht, eine neue Polizei für die Favelas zu schaffen, wir brauchen eine neue Polizei für die ganze Gesellschaft – und dafür müssen wir die Gesellschaft selbst verändern“. Solange diese Wende nicht kommt, schließen in Rio reihenweise die Geschäfte, mehr als 700 allein im Januar 2017. Danielle Gonzo Carlos Boutique gibt es auch nicht mehr.


Foto: Christine Wollowski: Friedenspolizist in der Favela Cantagalo, 2010

LUZERNER ZEITUNG 08.10.2017