Christine Wollowski

Brasilien Korrespondentin, Berlin

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Reportage

Schmutz und Spiele

Olympia. Rio de Janeiro ist bereit für die

Spiele. Doch bei den Einwohnern will keine
Feststimmung aufkommen. Nicht nur wegen den
vielen falschen Versprechungen.

 

„Um mundo novo, a new world“ steht in großen Lettern am Zaun des Olympiaparks in der Barra da Tijuca. Neu und fremd ragen dahinter die Bauten der Mehrzwecksporthallen, der Wassersportarena und der Radrennhalle in den grauen Himmel. Martialisch wirkende Militärs mit Maschinengewehren sind alle paar Meter vor der Absperrung postiert - dabei gibt es kaum Passanten an diesem kalten Julitag zwei Wochen vor dem Beginn der olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro.

 

Als die Stadt im Oktober 2009 den Zuschlag erhielt, Olympia ausrichten zu dürfen, schien das eine perfekte Gelegenheit, sich der Welt zu präsentieren: Brasilien galt als aufstrebende Wirtschaftsmacht, die womöglich bald Frankreich und Deutschland von den vorderen Positionen des Weltrankings verdrängen würde. Präsident Lula genoss den Höhenflug seines zweiten Mandats und war beliebter denn je. Heute sieht das Szenario weit weniger glamourös aus. Das größte Land Südamerikas ist in eine tiefe Rezession gestürzt, die Wirtschaft schrumpft um mehrere Prozentpunkte im Jahr, eine Wende ist nicht abzusehen. Lula-Nachfolgerin Dilma ist von der konservativen Opposition aus dem Amt gedrängt worden, und der Bundesstaat Rio de Janeiro hat sich als bankrott erklärt, damit die Landesregierung ihm Finanzspritzen geben kann, um die reibungslose Durchführung der Spiele zu garantieren. Der Sportevent wird mit mehr als 39 Milliarden Reais rund 15 Milliarden mehr kosten als ursprünglich angenommen.

 

Bürgermeister Eduardo Pães hatte den Cariocas große Versprechungen gemacht. Für die Spiele würde endlich die marode Infrastruktur der Stadt verbessert. Es würden Verkehrsmittel und Arbeitsplätze geschaffen, ganze Stadtviertel renoviert, die verschmutzte Guanabarabucht und die Lagoa de Freitas gesäubert - und die Spielstätten würden anschließend zum Nutzen des Volks weiter verwendet. „Die Olympiade bringt mehr als die Olympiade“, so steht es am Eingang des mehr als einen Quadratkilometer großen Olympiaparks, der ebenso überdimensioniert wirkt, wie das ganze Viertel Barra mit seinen breiten Avenidas und den riesigen Wohnkomplexen.

 

Direkt hinter dem blau verspiegelten Wolkenkratzer des neuen Hotel Mariott verlegen Arbeiter in Helmen und Blaumännern Pflastersteine im Sand, stehen wie verloren ein paar struppige Bäume in der ansonsten von jeder Vegetation befreiten Gegend. Weitere Arbeiter streichen eilig eine Reihe unfertiger Bungalows, und in einer Ecke lagern Stapel schon bräunlicher Rasenfliesen, die in die winzigen Vorgärten verlegt werden sollen. „Wenn hier die internationalen Besucher kommen, soll natürlich alles schick aussehen“, sagt Nathalia Silva. Die schmale junge Frau tritt an den Zaun zum Olympiagelände und zeigt auf einen imaginären Punkt mitten in der Betonwüste: „Da hinten habe ich gewohnt,  in einem schönen Haus mit sechs Schlafzimmern und einem großen Garten mit Obstbäumen.“ Die Favela Vila Autódromo wurde vor mehr als 40 Jahren von Fischern gegründet, als es hier noch keine Wolkenkratzer gab. Inzwischen gehört die Gegend zu den begehrtesten der Stadt, weil Immobilien in der ebenfalls am Meer gelegenen Südzone mit bis zu 13.375 Reais pro Quadratmeter unbezahlbar geworden sind. Bürgermeister Pães hatte schon viele Jahre Pläne, die Bewohner umzusiedeln. Ein Urbanisierungsprojekt, das die Anwohner in Zusammenarbeit mit Stadtplanungsinstituten und der Universität UFRJ entwickelt hatten, gewann den „Urban Age Preis“ der Deutschen Bank. „Der Bürgermeister hat sich dazu nicht einmal geäußert“, sagt Nathalia. „Es hätte einen Bruchteil der mindestens 200 Millionen Reais gekostet, die bislang bei der Räumung ausgegeben wurden.“ Nun werden nach den Spielen auf dem Gelände Luxuswohnsiedlungen entstehen. Fast alle der mehr als 700 Bewohner der Vila sind umgesiedelt worden oder haben Entschädigungen akzeptiert. Nathalia hat bis zuletzt gekämpft. „Als die städtischen Sicherheitsbeamten der Guarda Municipal zur Zwangsräumung gekommen sind, haben wir uns in den Weg gestellt und sind nieder geprügelt worden, meiner Mutter haben sie das Nasenbein gebrochen“, erzählt die Theaterstudentin. So bedeutet es für sie einen bitteren Triumph, dass sie demnächst mit ihrer Familie einen der 20 kleinen weißen Bungalows beziehen darf.

 

„Im Vorfeld der WM und der Olympischen Spiele sind mindestens 92.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden“, sagt der Architekt und Stadtplaner Lucas Faulhaber, „die Mega-Events haben eine politische und wirtschaftliche Konjunktur geschaffen, in der die Räumungen möglich wurden. Dabei geht es vor allem um Immobilien-Interessen“. Zum Beweis zeigt er auf den Streifen Brachland, der von der geräumten Favela Metrô-Mangueira in unmittelbarer Nähe des Maracanã-Stadiums übrig ist. Laut einem von der Stadt veröffentlichten Entwicklungsplan sollten hier Parkplätze für die WM entstehen. So eilig war es der Stadt, „dass die Abrissbagger ohne Vorankündigung angefangen haben, Wände einzureißen, während die Familien noch in ihren Häusern lebten!“, berichtet Lucas Faulhaber. Da auch nach der WM noch kein Parkplatz gebaut worden war, fand sich eine neue Erklärung: Nun soll angeblich ein Zentrum für Automobiltechnik entstehen. Was von der Olympiade bleibt? „Ein Stadt, die bankrott ist“, glaubt Faulhaber.

 

Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist bereits seit Monaten mit den Löhnen von Lehrern, Polizisten und Angestellten des Gesundheitssystems in Verzug. An einem sonnigen Nachmittag treffen sich Ärzte, Psychologen und Krankenschwestern in einer wegen des Lehrerstreiks leerstehenden Schule und diskutieren über die Zukunft des kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystems SUS. Renato Santos ist Allgemeinmediziner in einer öffentlichen Klinik, in der er Familien mit geringem Einkommen betreut. „Bei uns fehlt es an Basis-Medikamenten wie Blutdruck-Senkern oder Antibiotika“, erklärt er. „Wenn ich einen Patienten an einen Facharzt überweisen will, muss der mit monatelanger Wartezeit und womöglich einem Termin am anderen Ende der Stadt rechnen.“ Die Olympiabesucher werden von der prekären Lage in Krankenhäusern und Kliniken nichts mitbekommen. Der Mediziner zitiert eine Weisung seiner Klinikleitung: Niemand darf während der Spiele frei nehmen; eventuell auftauchende Touristen müssen behandelt werden; um ihre Wünsche zu verstehen, wird auf allen Computern ein kostenloses Übersetzungsprogramm installiert. „Die Touristen bekommen ganz klar eine Sonderbehandlung“, sagt Renato Santos, „es gibt ein elektronisches Erfassungssystem extra für die Fremden, und von zehn Betten sind jeweils zwei für sie reserviert.“ Statt sich die Spiele anzusehen, wird er an Protesten teilnehmen.

 

„Leider wird das Volk die Spiele nicht richtig feiern“, bedauert Anwältin Marina Pereira. Sie hat gerade ihren fünfjährigen Sohn in eine Privatschule gebracht und noch ein bisschen Zeit vor dem Friseurtermin. „Ich bin jahrelang Sportlerin gewesen, ich liebe die Spiele und werde garantiert 24 Stunden am Tag fernsehen – wenn ich nicht selbst im Stadium bin!“ Die 29Jährige hat fünf Eintrittskarten gekauft und dafür mehr als einen staatlichen Mindestlohn investiert. „Ich weiß, dass es viel Grund für Kritik gibt, dass die Regierung etwa bei der Räumung der Vila Autódromo gegen die Menschenrechte verstoßen hat – aber ich werde nie wieder Olympia in meiner Stadt erleben! Mein Vater ist Sportlehrer, und wir haben jetzt schon drei TV-Geräte aufgestellt.“ Die charismatische Frau strahlt. Dann erzählt sie, wie kürzlich hier im Viertel Anwohner zwei jugendliche Fahrraddiebe gestellt und in Selbstjustiz an einen Laternenpfahl gebunden und totgeschlagen haben. Einfach so. „Wir leben hier im Krieg, kein religiöser, keiner gegen andere Länder, sondern ein alltäglicher“. Direkt bekommt die Anwältin davon wenig mit. Überfälle auf Läden in Shoppingzentren, Morde an Polizisten, Raubzüge in Geschäftsstraßen – das passiert vor allem in der Nordzone und in den Favelas. Marina Pereira lebt mit ihrem Sohn in einem der teuren Viertel der Südzone, arbeitet in der Barra da Tijuca und freut sich, wenn sie bald mit der neuen Metrolinie und dem Schnellbus zur Arbeit fahren kann, statt im Stau zu stehen. „Es gelingt mir, mit den guten Dingen der Stadt zu leben“, sagt sie. „Jetzt wird hier ein Megaevent von großartigem Ausmaß stattfinden, und ich werde so viel davon mitnehmen, wie nur irgend möglich! Der Karneval kostet auch Milliarden und trotzdem feiern alle mit!“

 

Im Gegensatz zu den Bewohnern scheint die Stadt schon bereit für das große Fest: Die Lärmschutzmauern auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt tragen bunte Aufkleber, die Polizisten im Zentrum fröhliche weiß-rote Westen mit der Aufschrift „Präsenz im Zentrum“, und durchtrainierte Athleten strahlen von Werbetafeln in Metrostationen und an Bushaltestellen. Die ersten Schnellbusse fahren seit der WM, die neue U-Bahn-Linie soll vier Tage vor den Spielen in Betrieb gehen, und die Olympiabauten sind nahezu fertig. Kleine Fehler im Makeup fallen nur auf den zweiten Blick auf. Da wird etwa die neue Seilbahn gefeiert, mit der die Bewohner der ältesten Favela der Stadt in wenigen Minuten kostenlos die Spitze ihres Hügels Providência erreichen. Dass damit auch Touristen auf den Hügel fahren und dort zusätzliche Verdienstmöglichkeiten schaffen sollten, ist unter den Tisch gekehrt worden – zurzeit fühlen sich hier nicht einmal die Bewohner sicher. Kaum beachten sie den Ausblick aus den rundherum verglasten Kabinen über die neu gestaltete Hafenzone mit dem Zukunftsmuseum und den Lagerhallen der Cidade de Samba.

 

Ein paar Hundert Meter von der Seilbahnstation entfernt, begegnen sich in der Straße Gonçalves Dias alte und neue Welt. Schräg gegenüber der frisch gestrichenen Fassade der kürzlich eröffneten Filiale der Banco do Brasil liegt eine löcherige Matratze samt Bewohnern inmitten von Baumaterialien. Arbeiter verlegen direkt neben den Schlafenden die letzten Pflastersteine. Die Rückseiten der Lagerhallen, in denen die Sambaschulen ihre Allegoriewagen bauen, wirken baufällig. Ihre Vorderseite aber geht auf die neue Hafenpromenade hinaus, dort pinseln Malerteams gerade die letzten Details großformatiger, farbenfroher Gesichter auf die Fassade. Faserige Wedel frisch gepflanzter Palmen wiegen sich im Wind, Blumen blühen in Rabatten, die neue Leichtbahn VLT glänzt in der Sonne. Touristen machen Selfies vor der malerischen Kulisse. Und am Ende der Promenade, an der Praça Mauá, wo vor ein paar Jahren nur Prostituierte und Matrosen unterwegs waren, ist tatsächlich Partystimmung. Menschen klettern auf die mannshohen Blechbuchstaben „Cidade Olímpica“, wiegen sich zu den Rhythmen einer Zigeunerjazzband, die am Kai vor dem Zukunftsmuseum aufspielt. Französische Dialoge sind zu hören, Amerikanische, und Spanische. Sogar Cariocas staunen, „wie schön das alles geworden ist!“. Heiß ist es auch geworden, und zwei Jungs, die mit dem Fahrrad gekommen sind, springen kurzerhand von der Kaimauer ins Wasser. Einmal, zweimal, dreimal. Vielleicht hat ihnen niemand gesagt, dass die Guanabarabucht immer noch voller Kloake ist – zum Säubern hat das Olympia-Milliardenbudget nicht gereicht.       


Foto: Luis Baltar/RJ



Zentralschweiz am Sonntag, 31/06/2016