Christine Wollowski

Brasilien Korrespondentin, Berlin

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Reportage

Strom und Drang

Fluss ohne Wiederkehr: In den spektakulären Landschaften des Sertão fanden Brasiliens berühmter Bandit Lampião und seine Bande ihr Ende. Die Verehrung durch Touristen hält an.

Hier also haben sie ihn überrumpelt. Die Polizisten kamen im Morgengrauen und schossen alles nieder, was ihnen vor die Flinte kam. Nach wenigen Minuten lagen elf Tote in der Grotte der Farm Angico im Sertão des Bundesstaates Sergipe: Ein Polizist, neun Banditen, eine Frau. Die anderen Banditen, es waren zwei Dutzend, konnten fliehen. Das war das Ende des berühmtesten Räuberhauptmanns der brasilianischen Geschichte: Virgulino Ferreira da Silva, oder Lampião.

 

Lampião hieß er, weil er sein Gewehr so umgebaut hatte, dass es zwei Schüsse auf einmal abgab – und dabei die Umgebung erhellte wie eine Laterne. Achtzehn Jahre lang war er mit bis zu hundert Mann durch Brasiliens Nordosten gezogen; er brach das Gesetz, wo es nur ging, war gefürchtet und einflussreich. Seine Vorliebe für teure Parfüms und gute Kleidung war ebenso legendär wie sein Talent für strategisches Denken.

Doch an diesem Morgen im Juli 1938 ging seine Strategie nicht auf: unter Folter verriet ein Farmer der Polizei das Versteck, wo die Bande lagerte. Die Polizisten machten sich nicht die Mühe, die leblosen Körper mitzuschleppen, sondern schlugen den Banditen kurzerhand die Köpfe ab, um die Trophäen später im Dorf vorzuzeigen: Ein Fotograf baute sie zu einem makabren Denkmal auf den Stufen des Rathauses auf.

 

77 Jahre später pilgern schwitzend Touristen zu der einsamen Stelle, wo der größte Räuber Brasiliens sein Leben gelassen hat. Lampião gilt den Brasilianern als Paradebeispiel des edlen Abenteurers und Lebenskünstlers. In seiner Heimatstadt Serra Talhada im Nachbarbundesstaat Pernambuco führen Laiendarsteller sogar alljährlich eine Freilufttheater über sein Leben und Tod auf: Der Gesetzlose, der es in einer Zeit zu Reichtum und Macht geschafft hat, in der das Fußvolk sonst lebenslang für einen Hungerlohn schuften musste, ist bis heute für viele ein Idol. Die Lampião-Touristen fahren über den Rio Sao Francisco, der vier Nordostbundesstaaten durchfließt bevor er in Sergipe nördlich von Bahia mündet. Sie steigen auf einem schmalen Pfad den kargen, steilen Hügel hinauf, der von meterhohen Xique-Xique-Kakteen, Dornenbüschen und blattlosen Bäumen bestanden sind. Schon morgens brennt die Sonne so heiß, dass die Rastbänke auf halber Wegstrecke gut besetzt sind. Am historischen Ort erinnert eine Tafel an das Ende der Räuberbande. Sonst ist wenig zu sehen. Ein Felsüberhang lässt einen niedrigen Unterschlupf frei, in dem Lampião und seine Gefährtin geschlafen haben. Wo einst ein Bach gesprudelt hat, liegen nur noch Steine.

 

Die Besucher fotografieren einander und lassen die Führer in ihrer Banditen-Kluft posieren: weite Hosen, stilisierte Patronengürtel mit viel Silber über den Schultern und ein hartes Lederkäppi auf dem Kopf. Nach der anstrengenden Wanderung können sich die Besucher am Flussufer im Ausflugslokal bei kühlen Getränken und Fischgerichten erholen.

Der Sertão gehört nicht zu den touristischen Gegenden des Landes. Die unerbittliche Sonne lässt hier alle Erde zu feinem Staub zerfallen, der in Lungen, Poren und Kleidung dringt. Das Wort bedeutet so etwas wie „Steppenlandschaft“, aber es steht auch für eine Welt der Extreme, in der ein eigener Menschenschlag zuhause ist. Hier kann eine Dürre in kürzester Zeit den über Jahre angesammelten Reichtum vernichten, ein gestohlenes Rind eine Familienfehde begründen, eine Ohrfeige am falschen Ort die Ehre eines Mannes zerstören. Während sich in den leichter erreichbaren und fruchtbaren Küstengebieten allmählich eine öffentliche Ordnung entwickelte, blieb der Sertão bis weit ins vergangenen Jahrhundert eine gesetzlose Zone, in der die Großgrundbesitzer willkürlich herrschen konnten. Zehn Prozent der Fläche Brasiliens bedeckt diese Art Halbwüste, die nur im Nordosten des Landes existiert. Der Bundesstaat Sergipe zeigt ein besonderes Szenario: Hier durchschneidet das majestätische Türkisblau des Rio São Francisco die Kargheit und formt dabei imposante Canyons. Der Velho Chico, „Alter Junge“, wie er liebevoll genannt wird, war Jahrhunderte lang die wichtigste Verkehrsader. Seitdem sind die jährlichen Regenfälle stark gesunken und der 2800 Kilometer lange Fluss ist nur noch auf Teilstrecken schiffbar.

 

Die erste Touristenattraktion am Fluss war das in den 1980er Jahren errichtete gigantische Wasserwerk „Xingó“, das nur wenige Kilometer von Lampiãos Todesort steht. Es war damals das größte und modernste Südamerikas und Besucher kamen aus den umliegenden Städten wie Aracajú im Süden und Maceió im Norden angereist, um die aus Lehm und Natursteinen gebaute Staumauer zu bestaunen. Zum Stausee schippern bis heute täglich mehrere Schiffsladungen Touristen. Sie reisen aus den umliegenden Badeorten extra für die mehrstündige Bootstour mit Badepause zwischen den Canyons an, bei der die romantische Musik des Sertão gespielt und Fleischspieße à la Lampião serviert werden. Auch auf dem Schiff tragen alle die Lederkäppis und die weiten Hosen des Renegaten, dessen vermeintlich so freies und zügelloses Leben noch immer idealisiert wird: In einer Welt, in der es nur reiche Großgrundbesitzer und arme Landarbeiter gab, verschafften sich die gesetzlosen Banditen, die Cangaceiros, einen Sonderstatus. Sie plünderten reihenweise Farmhäuser und waren so gefürchtet, dass sich die Menschen verkrochen, wenn es hieß, Lampião sei in der Gegend. „Meine Oma hielt sich einmal tagelang in einer Höhle versteckt: sie trank sogar Rinder-Urin, weil sie Angst hatte, heraus zu kommen“, erzählt Jairo de Oliveira. Jairo ist mit einer Großnichte des Farmers verheiratet, der Lampião verraten musste und beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Geschichte der Cangaceiros. In einem kleinen Lehmhäuschen oberhalb des Ausflugslokals hat er angefangen, mit historischen Fotos und Alltagsgegenständen ein Museum einzurichten. „Ich habe alle noch lebenden Beteiligten besucht und interviewt“, sagt er stolz. Meistens lebten die Räuberbanden auf der Flucht. Sie schlugen sich zu Fuß durch das dornige Unterholz des Sertão und hausten in Höhlen und Grotten. Trugen zwar an jedem Finger dicke Ringe und oft kiloweise Gold im Sack, aber auch so viel Munition auf dem Rücken, dass die Polizisten sie selbst als Zivilisten verkleidet an den dicken Schwielen im Nacken erkannten, die sie vom Tragen bekamen. So kamen sie zu ihrem Namen: nach der „Canga“, einem Holzbügel, mit dessen Hilfe Eseln Lasten aufgeladen wurden. Dass sie zwischendurch immer wieder Menschen umbrachten, war ihrem Ruhm eher zuträglich. Neben karstigen Bergen und uralten Felsformationen sieht der Mensch nicht nur klein und unbedeutend aus, auch sein Leben ist nicht viel wert: weniger als seine Ehre, weniger selbst als ein gestohlenes Rind. Mannespflicht war es, sich zu verteidigen – und mancher Räuber erfand einfach eine Rachegeschichte, um seinen Lebenswandel zu rechtfertigen.

 

Im Nachbarstädtchen Canindé do São Francisco finden sich noch Augenzeugen. Alzira Marques sitzt sehr aufrecht in der Hängematte auf ihrer Terrasse und blickt in die Ferne, als sei dort die Vergangenheit zu finden. „Ja“, erinnert sich die 91-Jährige und neigt kokett den Kopf, „ich habe AUCH EINMAL mit Lampião getanzt.“ Ganz in der Nähe, sie deutet auf das lehmrote Nachbarhaus, habe ein Farmer den Banditen regelmäßig Unterschlupf gewährt. Solche Beschützer hatte Lampião viele. „Wer ihm gab, was er forderte, ein Essen, ein Versteck für die Nacht, der hatte im Leben nichts mehr zu befürchten“, erklärt Alzira.

 

Es heißt, der Gesetzlose habe zudem vielen Farmern Kredite gewährt. Wenn er bei Alziras Nachbarn weilte, zitierte er häufig eine der beliebtesten Forróbands der Stadt herbei. Nach Einbruch der Dunkelheit ließ er die schönsten Frauen der Gegend zum Tanz abholen: Verheiratete, Unverheiratete und junge Mädchen. „Niemand lehnte eine Einladung von Lampião ab, die Leute hatten viel zu viel Angst, es gab ja keine Polizei damals in Canindé!“ . Zwölf Jahre alt war Alzira damals – und so ein Räuberball eine sehr willkommene Unterbrechung ihres Alltags in der Halbwüste. „Wir tanzten die ganze Nacht, erst im Morgenrot ließ er uns zurück bringen“, schwärmt die alte Dame. Eltern und Ehemänner mussten sich fügen. Manch abenteuerlustige Freundin von Alzira zog auf Dauer mit den tollkühnen Tänzern in die Dornenwüste. „Sie sahen gut aus, hatten Geld, benutzten teure Parfüms... aber den Schweißgeruch wurden sie nicht los, auch wenn sie duschten, sie zogen ja ihre Uniformen und Stiefel nicht einmal zum Schlafen aus!“

 

In Canindé zeigen Statuen das berühmte Paar: den hageren hochgewachsenen Lampião mit Nickelbrille, Patronengürteln und dem typischen Lederhut und seine blasse Gefährtin Maria Bonita, die zum eleganten Kleid dicke Wollstrümpfe trägt, als Schutz vor den Dornen. Die Farmerstochter hatte sich als 18-Jährige halsüberkopf in den zehn Jahre älteren Abenteurer verliebt, dass sie ihm ins Unterholz gefolgt war, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Neben ihnen steht ein kleiner zäher Mann in Cowboykleidung. Das ist Zé Lealbino, Farmerssohn aus Canindé, Stehgreifdichter und selbst berühmt, als einer der besten Reiter der Stadt. Zé war erst neun als er den Räubern begegnete, weil sie im Haus seines Vaters um eine Mahlzeit baten. „Damals konnte ich nicht zugeben, wie sehr ich sie bewundert habe, weil mein Vater gegen die Cangaceiros war. Dabei haben sie alles bezahlt, was sie gegessen haben.“ Der 92-Jährige hat vor ein paar Jahren das Reiten aufgegeben und seine einst kräftige Stimme ist leise wie ein Windhauch. Es schwingt Sehnsucht darin, als er fortfährt: „Und dann sind sie wieder verschwunden, um die Nacht wer weiß wo zu verbringen.“

 

„Wer weiß wo“, das waren meistens durch Felsüberhänge geschützte Schattenplätze. In den oft mehr als 1000 Hektar großen Farmen rund um Canindé do São Francisco gab es davon reichlich. Mehrere Jahre soll sich deswegen die Bande auf vielleicht 100 Kilometern entlang des Flusslaufs versteckt gehalten haben. Einen richtigen Felsenpalast fanden sie in der Fazenda Mundo Novo. Schroff erheben sich die Felsen in der Wüstenlandschaft. Rotbraune Figuren-Zeichnungen zeugen davon, dass hier schon vor Jahrtausenden Menschen Unterschlupf gefunden haben: Perfekte Sitzgruppen aus Stein gruppieren sich um einen flachen Tisch, von drei Seiten schützen sie Felswände. Ein paar Meter weiter scheinen sich Nischen und Korridore als Nachtlager anzubieten. Farmbesitzer José Augusto de Andrade Lima stapft durch den Sand und lädt die Besucher ein, den kühlen glatten Stein mit der Hand zu berühren: „Merkt ihr, wie kühl es hier wird?“, sagt er begeistert, „die Hitze von draußen ist kaum noch zu spüren! Hier haben die Räuber Domino gespielt und Feste gefeiert!“.

 

Der drahtige Mann kennt jeden Quadratmeter seines Landes, weist hier auf eine besonders schöne Wurzel hin, da auf eine Verletzung in einem alten Baumstamm und bittet immer wieder um Ruhe. Plötzlich klettert der schmale 64-Jährige geschickt die Felsen hinauf, zeigt erst den 360-Grad-Ausblick über die Karstlandschaft und danach ein kleines Becken im Fels, dessen natürlicher Abfluss verstopft wurde: „Das ist/war die Badewanne von Maria Bonita!“ Andächtig schweigt José Augusto und betrachtet die historische Wanne. Der Wind bläst über die Felsen, und die uralten Steine schweigen, als wollten sie die Geheimnisse der Banditen für immer hüten.



foto: Christine Wollowski
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17/1/2016