Christine Hutterer, Dr. rer. nat.

Medizin- und Wissenschaftsjournalistin, München

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Bereitschaftsdienst in Bayern: Ärzte mit Grenzen

Der Regionalverband des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten e.V. sieht aufgrund der Neuregelung der Bereitschaftsdienstordnung in Bayern die Bürger in Gefahr. Wollen sich die Psychotherapeuten und andere Arztgruppen einfach vor den Diensten drücken oder ist wirklich die Qualität der Patientenversorgung in Gefahr?

Wer außerhalb der regulären Sprechzeiten einen Arzt benötigt, wendet sich an den Bereitschaft habenden Arzt. Bisher wurde der Bereitschaftsdienst in Bayern vor allem von Allgemeinärzten und Fachärzten der organmedizinischen Versorgung durchgeführt. Doch der Ärztemangel, die Überalterung der Hausärzteschaft und die bröckelnde hausärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten haben den Bereitschaftsdienst in seiner bisherigen Form an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns ( KVB) hat daher eine geänderte Bereitschaftsdienstordnung auf den Weg gebracht, die im April dieses Jahres in Kraft getreten ist.

Eine große Änderung ist die Verpflichtung von Arztgruppen zur Teilnahme, die bisher vom Bereitschaftsdienst befreit waren. Darunter fallen die Fachärzte für Humangenetik, Labormedizin, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Pathologie/Neuropathologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Radiologie, Transfusionsmedizin u.a. Bisher hielt die KVB eine fachärztliche Ausbildung, wie etwa die zum Facharzt für Allgemeinmedizin für notwendig, um am Bereitschaftsdienst teilnehmen zu können und zu dürfen. Wegen Nichteignung waren beispielsweise Psychotherapeuten vom Bereitschaftsdienst seit mehr als zwei Jahrzehnten ausgeschlossen. Sie haben also seit sehr langer Zeit keine körperlich kranken Menschen versorgt. In einem Feld wie der Medizin, wo es zum einen im Extremfall um Leben und Tod gehen kann, und sich zum anderen das Wissen und die Behandlungsmethoden schnell weiterentwickeln, sollte die Frage erlaubt sein, ob unter einer solchen Reform die Qualität der Patientenversorgung leiden könnte.

Approbation und Fortbildung ausreichend

Dr. Wolfgang Kromholz, Vorstandsvorsitzender der KVB, geht nicht davon aus: „Jeder Kollege mit Approbation hat eine klinische Ausbildung durchlaufen und ist daher befähigt, Menschen in Notfällen zu versorgen. Für Mediziner, die sich nicht hinreichend ausgebildet fühlen, bieten wir über zwei Jahre Fortbildungen an, in denen alle wichtigen Themen behandelt werden. Ich sehe keinen Grund, warum die Ärzte das nicht können sollten." Zugegeben, an einem Unfallort ist ein Radiologe ebenso verpflichtet, erste Hilfe zu leisten, wie ein Allgemeinmediziner. Einige Betroffene sehen es dennoch aus einer anderen Perspektive: Silke Doll, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie aus Immenstadt im Allgäu erklärt: „Ein Drittel meines PJ habe ich vor über 20 Jahren in der inneren Medizin gemacht, ein weiteres Drittel in der Chirurgie. Ab dann war ich nur noch in der Psychiatrie und der Psychotherapie beschäftigt. Ich habe faktisch nie somatisch gearbeitet und war schon gar nie mit Akutsituationen konfrontiert."

Auf viele Schultern verteilen

Ein Vorteil der Teilnahmepflicht anderer Facharztgruppen soll und wird darin liegen, dass sich mehr Ärzte den Bereitschaftsdienst teilen, und somit die Belastung und Frequenz für jeden einzelnen Arzt sinkt. In städtischen Gebieten wird das sicherlich funktionieren, doch dort steht der Bereitschaftsdienst auch nicht auf der Kippe. Doch in ländlichen Gebieten gibt es eben kaum Genetiker, Pathologen, Transfusions- und Nuklearmediziner, welche beim Bereitschaftsdienst die bisherigen Teams verstärken könnten. Bleibt also die Problematik auf dem Land trotz der Neuordnung bestehen? Jörg Hüwel ist Referatsleiter für den Bereich ambulante Versorgung beim Verband der Ersatzkassen e.V., Landesverband Bayern: „Für so ein Flächenland wie Bayern, in dem es von Großstädten bis Einzelhöfen, von Millionären bis zu Obdachlosen, von jungen Medizinern und alternden Landärzten alles gibt, ist es praktisch nicht möglich, eine Schablone zu entwickeln, mit der sich alle wohlfühlen", sagt er. „Das Ziel der Krankenkassen ist es, dass die Versicherten in allen Ecken Bayerns eine gute Versorgung bekommen."

Längere Wege, längere Wartezeiten

Silke Doll befürchtet sowohl Qualitätseinbußen für die Versorgung im Bereitschaftsdienst als auch in ihrer psychotherapeutischen Arbeit. Denn auch bei den Psychotherapeuten herrscht Nachwuchsmangel. Und die Verdienste sind im Durchschnitt deutlich geringer als die eines Hausarztes. Frau Doll würde sich eine flächendeckende Versorgung mit Bereitschaftspraxen wünschen, in denen extra dafür angestellte Ärzte Dienst tun und dafür angemessen bezahlt werden. „Ich kann diese Betreuung in hoher Qualität aufgrund mangelnder Erfahrung nicht leisten. Da kenne ich meine Grenze!" Zudem schlagen die Psychotherapeuten vor, dass sie den hausärztlichen Bereitschaftsdienst mit ihrem Fachwissen unterstützen könnten. Denn Untersuchungen der Universität Hamburg und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben gezeigt, dass etwa 20 Prozent der Einsätze im Bereitschaftsdienst einen psychischen, psychiatrischen oder psychosozialen Hintergrund haben. Und hier könnten die entsprechenden Fachärzte ihre Stärken gewinnbringend für alle Beteiligten einsetzen.

Teil der Reform ist auch, dass die Bereitschaftsdienste zentralisiert werden sollen, indem Bereitschaftspraxen eingerichtet werden, in denen der Bereitschaftsdienst geleistet werden kann. Praxisräume und die Ausstattung werden mit Unterstützung der KVB und der Krankenkassen finanziert. Durch die Zusammenlegung von Dienstgruppen werden Patienten künftig längere Wegstrecken zur Bereitschaftspraxis auf sich nehmen und mit längeren Wartezeiten rechnen müssen. Medizinische Risiken sollten damit dennoch nicht verbunden sein, denn in wirklich lebensbedrohlichen Situationen ist der Notarzt zuständig. Doch auch die Bevölkerung muss sich weiterbilden, und zwar u.a. darin, in welchen Fällen überhaupt der Bereitschaftsdienst und der Notarztdienst zu rufen oder aufzusuchen ist.

Dem Nachwuchsmangel begegnen

Junge Ärzte werden vermutlich problemlos in das neue Bereitschaftssystem hineinwachsen und werden als Niedergelassene die schönen Seiten des Arztberufes kennenlernen. Für Ältere, die seit langer Zeit befreit waren, bedeutet die neue Bereitschaftsdienstordnung mitunter einen großen Einschnitt. Andererseits werden natürlich auch viele Ärzte von der Reform profitieren und dadurch entlastet. Es gibt die unterschiedlichsten Stimmen - viele freuen sich über die Änderung, andere Ärzte finden sie verantwortungslos:

„Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn durch meine Fehleinschätzung ein Mensch großen Schaden davonträgt oder stirbt", stellt Fr. Doll heraus.

„Es ist auf jeden Fall nicht richtig, dass die Patienten Angst haben müssten, wenn die neu integrierten Ärzte Dienst haben", betont Dr. Krombholz.

Eine viel dringlichere Frage scheint aber zu sein, wie auf lange Sicht dem Nachwuchsmangel bei Haus- und Fachärzten begegnet werden kann. Die KVB hofft, dass der Hausarztberuf auf dem Land wieder attraktiver wird, wenn zum normalen Praxisbetrieb nur maximal sechs Wochenenddienste pro Jahr geleistet werden müssen. Und die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat eine große Werbekampagne gestartet, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Doch so lange das Verhältnis aus Bezahlung in Kombination mit langen Arbeitszeiten ungünstig ist, und Hausärzte auf dem Land aufgrund von fehlenden Fachärzten in der Umgebung die Budgets nicht einhalten können, scheint die Lage verzwickt. Viele Absolventen gehen ins Ausland, weil dort die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung attraktiver sind und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben ist. Das sollte uns zu denken geben. Andere gehen in die Industrie. Oder machen etwas ganz anderes. Die Neufassung der Bereitschaftsdienstordnung dürfte dabei aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Herr Hüwel urteilt: „Die neue Bereitschaftsdienstordnung muss aber auch Zeit haben, leben zu dürfen. Sie ist noch sehr jung, aber sie ist mit Augenmaß gemacht worden, und sie ist gut."

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