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Mauerfall, pünktlich um 11 Uhr mittags

West-Berliner kommen nur mit einem Passagierschein nach Ost-Berlin.

Besatzungszonen, Mauerbau, Grenzkontrollen: Die Schüler der Evangelischen Schule Berlin Mitte erlebten eine Woche lang den Alltag des geteilten Berlins. Am Freitag war dann Mauerfall.


Achtung Staatsgrenze! Betreten verboten! Seit Mittwochmorgen steht in der Evangelischen Schule Berlin Mitte die Mauer wieder. In einer Projektwoche erleben 140 Kinder das geteilte Berlin von 1945 bis 1989.

Stalin, Truman und Churchill begrüßen die nichtsahnenden Schüler der vierten bis sechsten Stufe am Montagmorgen: Die Lehrer spielen das Potsdamer Abkommen nach. Gleich danach wird die Schule in West- und Ost-Berlin aufgeteilt, Schüler wie Lehrer nehmen neue Identitäten an. Sie reihen sich in die Schlange der Meldestelle Rathaus Schöneberg oder Eberswalder Straße ein, je nach zugeteiltem Bezirk. Im Westen gibt es zur Begrüßung einen Westpass und Kaugummi, die Ost-Kinder bekommen Pionierausweise und rote Halstücher. Die Grenzen sind noch mit rot-weißem Absperrband markiert, die Schule ist beklebt mit Hinweisschildern: "Achtung, sie verlassen jetzt West-Berlin" oder "Ende des demokratischen Sektors von Berlin".

Mauerbau am Mittwoch

Die Grundschüler spielen ganz normale Ost- und Westbürger. Mit verschiedenen Ereigniskarten werden aber immer wieder neue Aspekte in das Rollenspiel eingebracht. Da gibt es Journalisten vom Westsender Freies Berlin, die aus der sowjetischen Besatzungszone berichten wollen und von den DDR-Staatsdienern schikaniert werden, West-Berliner, die ihre Verwandten im Osten besuchen wollen, Spitzel und Spione, Fliehende und Fluchthelfer. Außerdem sollen christliche Jugendgruppen aus West-Berlin versuchen, Kontakt zu den sogenannten "Christenlehrekindern" aus der DDR aufzunehmen. Kein leichtes Unterfangen, ist die DDR doch ein sozialistisch-atheistischer Staat. Das bekommt ein Schüler am Mittwochmorgen beim Fahnenappell ganz besonders zu spüren: Er wird öffentlich zur Schau gestellt, weil seine Eltern in die Kirche gehen.

Doch auch für die anderen verschärft sich die Situation am Mittwochmorgen. Die 60er-Jahre beginnen und damit der Mauerbau. Der Grenzübergang Friedrichstraße ist streng überwacht, West-Berliner können nur mit Passierschein in die DDR reisen. Und auch dann nicht immer: Wegen einer Westzeitung im Rucksack kommt eine Schülerin nicht auf das sozialistische Staatsgebiet. Andere müssen ihre Vesperboxen am Grenzpunkt lassen. Denn: "In der DDR gibt's genügend zu essen", sagt die treue Staatsdienerin Scharfenberg. Sie heißt im wahren Leben Kerstin Hagedorn und leitet die Grundschule in der Nähe vom Hackeschen Markt. "Uns ist es wichtig, dass die Kinder die Atmosphäre der damaligen Zeit erleben", erklärt sie, "in den Schulbüchern stehen zwar Sachtexte mit vielen Fakten, aber wenn die Kinder eine andere Rolle einnehmen und die historischen Episoden nachspielen, sind sie emotional dabei. Sie lernen viel intensiver."

DDR-Propaganda im Schulunterricht

Das fängt schon bei der Klassengröße an. Statt der üblichen sechs Klassen gibt es nur vier, in jeder sind 35 Schüler. Die Tische in den Klassenräumen stehen dicht an dicht, bis gestern saßen Mädchen und Jungs in den Westklassen getrennt. Heute beginnen die 70er-Jahre. "Im Westen merkt man, wie der Geist der 68er-Bewegung in die Schulen kommt, die Lehrer werden weniger streng, die Tische sind in U-Form angeordnet, Mädchen und Jungen dürfen zusammensitzen", sagt Maike Neuwirth, die während der Projektwoche die Rolle der Westlehrerin Frau Wilke einnimmt. Im Osten bleibt hingegen bis zum Mauerfall der Drill an den Schulen erhalten. "Setzt euch gerade an die Tische, nehmt die Lernhaltung wieder ein", weist die Klassenlehrerin die Schüler regelmäßig zurecht. Der sozialistische Schulunterricht ist geprägt von der DDR-Propaganda: "Wir haben eine Fünf-Tage-Woche, das ist eine große sozialistische Errungenschaft, in vielen westlichen Ländern zählt auch der Samstag noch als Arbeitstag", indoktriniert der Lehrer die Schüler. Aber die Produktion in der DDR sei so fleißig, dass zwei Ruhetage pro Woche kein Problem seien. "Unter anderem deshalb, weil wir die ganzen kirchlichen Feiertage gestrichen haben, die brauchen wir in der sozialistischen DDR nicht mehr."

Die Mauer fällt

Die Viert- bis Sechstklässler erleben aber nicht nur den Schulalltag der geteilten Stadt. Zeitzeugen kommen in die Grundschule und berichten von ihren Erlebnissen, es gibt Ausflüge zu historisch relevanten Schauplätzen und Museen. Die Ost-Berliner Meldestelle in der Schule wurde von einem ehemaligen Volkspolizisten bewacht. Der Vater einer Lehrerin, der in West-Berlin lebte, erzählt bei der täglichen Tagesschau für die Westklassen von Besuchen bei den Schwiegereltern in Ost-Berlin und den anstrengenden Grenzkontrollen. Die Ostklassen erfahren am Donnerstag der Sophienkirche, wie es zu den Montagsdemos unter dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen" kam. Anschließend malen sie Plakate für ihre eigene Demo. "Wir wollen Freiheit" fordern sie darauf, und "Keine Gewalt". Viele Flüchtlinge aus Ost-Berlin kommen am Freitagmorgen über Prag und Ungarn schon in den West-Sektoren an. Kurz vor 11 Uhr formiert sich dann die finale Friedensdemonstration. Die Ost-Berliner singen Lieder der Friedensbewegung, marschieren mit ihren Plakaten über den Schulhof und öffnen die Absperrung, die sie von West-Berlin trennt. Die DDR-Grenzwachen sind machtlos. Pünktlich um 11 Uhr fällt dann die Mauer am Grenzposten Friedrichstraße.

Lehrer und Schüler versammeln sich in der Mensa und singen gemeinsam "We Shall Overcome". "Ich kann sehr gut verstehen, dass ihr aufgewühlt seid, das waren wir damals auch", sagt Hagedorn, nun in zivil. "Allerdings ging es beim echten Mauerfall sogar noch ruhiger zu, als bei uns heute." Mit Original-Filmaufnahmen vom 9. November 1989 können sich die Kinder ein eigenes Bild machen.

Austausch auf neutralem Terrain

Seit knapp einem Jahr haben die Lehrerinnen und Lehrer der Grundschule die Projektwoche schon vorbereitet. Natürlich ist das aufwendig. "Aber es ist gleichzeitig sehr spannend, weil wir uns im Kollegium austauschen und jeder seine eigenen Erfahrungen aus der Zeit mit einbringen kann", sagt Schulleiterin Hagedorn. Sie ist überrascht, wie gut die Kinder mitspielen und in ihren Rollen aufgehen. Es gebe kaum Ausreißer, die aus ihren Rollen brechen oder das ganze Spiel infrage stellen. Auch deshalb ist eine Nachbereitung wichtig: Am Donnerstag nach den Pfingstferien wird in den normalen Klassen über die Erlebnisse gesprochen. Aber auch schon vorher tauschen sich die Kinder untereinander aus: Der Hort der Schule, wo die meisten Schüler ihre Nachmittage verbringen, ist neutrales Terrain. Dort kommen Geschwisterkinder und beste Freunde wieder zusammen, nachdem sie den Morgen in verschiedenen Sektoren verbracht haben. Auch Zuhause sei die Teilung der Stadt nun bei vielen Familien Thema, die Kinder fragen nach, wollen mehr erfahren. Hagedorn freut sich: "Genau das wollten wir erreichen."


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