Christina Maria Bauer

Freie Musikjournalistin, München

1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

So klingen 200 Saiten


Sebastian Gramss, 49, ist nicht nur ein versierter Solist am Kontrabass, er bringt zudem gerne mal ganze Kontrabass-Kollektive auf die Bühne oder ins Studio, um Eigenkompositionen zu spielen. Es dürfen aber auch mal andere Instrumente mitmischen, etwa im Jazzquintett Underkarl. Im Juni trat Gramss als einer der wenigen deutschen Teilnehmer auf der ISB Convention in den USA auf. Mit der Bassmasse 13 veröffentlicht der ECHO-Preisträger im Herbst ein neues Album.

 

Eine Sache bringt Sebastian Gramss durch seine musikalische Arbeit rüber wie kaum ein zweiter: Es gibt kein Instrument vor dem Kontrabass. Genau genommen bräuchte man sonst überhaupt keine Instrumente. Na gut, Gramss spielt schon in multiinstrumentellen Ensembles, insbesondere seinem seit 1993 bestehenden Quintett „Underkarl“, das für rasant-schrägen Anarcho-Jazz bekannt ist. Aber in jüngster Vergangenheit setzt er sich zum einen solistisch intensiv mit seinem Tieftöner auseinander. Zum anderen hat er offenbar beschlossen, die kontrabassistischen Möglichkeiten des Planeten möglichst oft gebündelt zum Einsatz zu bringen. Beides steht in enger Wechselwirkung zueinander, wie Gramss erklärt: „Ich habe gerade in den letzten Jahren reichlich neue Erfahrungen gesammelt, die mir halfen, mein eigenes Vokabular als Bassist weiterzuentwickeln und als Soloprogramm zu performen. Mein Wissen um die Feinheiten des Kontrabasses ist auch eine gute Grundlage, um für Ensembles mit mehreren Bässen Stücke zu komponieren.“ Da tritt dann schon Mal eine ganze Schwadron von Kontrabassisten aus aller Welt an, etwa zum Auftakt des moers festivals 2014 am neuen Veranstaltungsort. „Die Resonanz zu dem Auftritt mit der Bassmasse 50 in Moers war sehr positiv. Dass wir bei der Gelegenheit auch die neue Bühne einweihten, war wohl mehr für die Außenwirkung von Bedeutung. Als Musiker geht es letztlich darum, am jeweiligen Ort gute Musik zu machen, egal, ob es diesen seit gestern gibt oder seit fünfzig Jahren.“

Wenn es um „beste Bassisten“, auch als wichtige Vorbilder, geht, ist Gramss erst mal zurückhaltend. „Es gibt viele gute Bassisten, von denen jeder auf seine eigene Art überzeugend ist. Man kann sie im Grunde gar nicht so einfach miteinander vergleichen.“ Aber Peter Kowald, doch, der sei schon ein wichtiger Mentor für ihn gewesen. Den von ihm geerbten Kontrabass hält Gramss in Ehren, neben seinen drei anderen Kontrabässen. Dann war da noch Stefano Scodanibbio, der Anfang 2012 im Alter von 55 Jahren an ALS verstarb. Das bedeutete unter anderem das Ende seiner 2008 begonnenen Kooperation mit Gramss. Doch seine jahrzehntelange Innovationsarbeit als Bassist wirkt nach. „In den letzten Jahren hatte sicher Stefano Scodanibbio den größten Einfluss auf mich“, so Gramss. „Er kam mehr aus dem Bereich Neue Musik, dort hat er sich intensiv mit einer neuen Klangästhetik am Bass beschäftigt. Durch seine Arbeit hat er die Rolle des Instruments ein großes Stück vorangebracht. Für viele Bassisten, deren Interessen nicht sehr eng festgelegt sind, ist er sicher eine der großen Leitfiguren, u.a. auch mit seinem Album „Voyage that never ends“.“

Letztlich inspirierte Scodanibbio Gramss zum Aufbau größerer Basskollektive. Das 2008 noch gemeinsam intiierte Projekt „Double the Double Bass“ führt Gramss in wechselnder Besetzung mit ausgewählten Co-Bassisten weiter. Im Frühjahr spielte er in dieser Reihe einige Konzerte mit dem Briten Barry Guy. Eine Aufnahme von Scodanibbio mit zahlreichen übereinandergelegten Bassspuren wurde zum Vorbild für ein Memorial Projekt, das dem so Bedachten gefallen haben dürfte. Mit elf Bassisten aus aller Welt kreierte Gramss eine Einspielung, die er selbst zugleich als musikalische Weiterentwicklung erlebte. “Das Projekt „Thinking of…“ war für mich sehr wichtig. Es wurde in elf verschiedenen Studios weltweit, von Japan über Europa bis in die USA, aufgezeichnet. Das war ganz schön aufwendig in der Vor- und Nachbereitung. Ich hatte die Musik komponiert, war aber nicht als Produzent vor Ort, wenn die Kollegen ihre Parts einspielten, zum Beispiel Mark Dresser in Kalifornien. Ich konnte nur die Partitur und meine Spielanweisungen schicken, mit Playback- und Click-Tracks, damit die elf zusammengefügten Aufzeichnungen später auch als Gesamtheit gut klingen würden. Für meine Weiterentwicklung in Sachen Komposition und Postproduktion war dieses Projekt sehr hilfreich.“ Die elf Bassisten sind zugleich Teil von Gramss‘ bisher umfangreichstem Ensemble Bassmasse 50, gegründet 2012. Er schrieb dafür unter anderem das Stück „Schwarm“. Die Gesamtkoordination ist etwas unhandlich und nicht auf allzu viele Rahmen anwendbar, aber dafür gibt es auch noch eine Light-Version: Bassmasse 13. Nach einigen Konzerten Anfang des Jahres erscheint nun im Herbst ein Album dieser Formation. Es geht auch noch eine Nummer kleiner, etwa in den Quartetten Basz mit Dieter Manderscheid, Joscha Oetz und Robert Landfermann sowie Multibass Orchester 4 mit Dietmar Fuhr, Achim Tang und Christian Ramond.

Doch auch den mit „Thinking of …“ eingeschlagenen Weg entwickelt Gramss in einem neuen Projekt weiter. Dieses Mal soll es für die Co-Musiker weniger reine Vorgaben geben, dafür mehr Mitwirkung. „Bei Sound:Carving möchte ich versuchen, neue Stücke stärker aus der Gruppe heraus zu komponieren. Dazu koordiniere ich mit jedem der Musiker zunächst einzelne Einspielungen im Studio, in denen wir individuelle Ideen und Ansätze festhalten, etwa Fragmente, Rhythmen, Harmonien oder lose Akkordfolgen. Die Aufzeichnungen ergeben eine Skizze, aus der ich anschließend Stücke für das Ensemble komponiere. Auf diese Weise ist jeder schon im ersten Schritt mit seiner eigenen Stimme repräsentiert. Dann erst trifft sich die Gruppe, um die so entstandene Musik einzustudieren und auf Tournee zu gehen.“ Ab und an zieht es Gramss, abseits der Schwadronen von Bässen oder gar anderen Instrumenten, ganz allein auf die Bühne. Ein Mann, ein Bass, ein bis zwei Bögen und ein Satz Spirocore Saiten von Thomastik-Infeld in Wien. Das lässt reichlich Spielraum für das Erproben immer neuer Pizzicato-, Slap- und Bogentechniken einschließlich Extended Techniques. Gramss erkundet, allein genau wie in vervielfachter Form im Kollektiv, was sich aus Saiten, Griffbrett, Korpus und Bogen rhythmisch und klanglich alles rausholen lässt. Auch melodische und harmonische Gestaltungen schleichen sich immer wieder mal verstärkt ein. „Neben meiner Bandarbeit ist für mich am Bass derzeit die stärkste innere Herausforderung, ein neues Soloprogramm zu entwickeln und einzuspielen. In dieser Richtung übe, forsche und komponiere ich ständig weiter, aber ich denke, es wird noch einige Monate dauern, bis das Material wirklich reif ist.“

Für eine frühere Solo-CD hatte Gramss auch schon mal mit einem Spezialbass Marke Eigenbau experimentiert. „Den Spacebass habe ich vor etwa zehn Jahren entwickelt. Er hat unter den regulären Saiten noch zwölf Resonanzsaiten, die normalerweise nicht direkt bespielt werden, sondern nur mitschwingen. Das Prinzip ähnelt ein wenig dem bei einer Viola d’Amore oder einer Sitar. Ich habe diesen Bass bei zwei, drei Stücken meiner ersten Solo-CD gespielt. Für den Bandkontext ist er weniger geeignet, da der Nachhall der Zusatzsaiten recht leise ist.“ Ab und an denkt der Bassist darüber nach, daraus auch eine flexible Bass-Erweiterung zu entwickeln. Die wäre dann mit jedem Kontrabass kombinierbar. Der Musiker lässt interessierte Zuhörer schon auch mal einen Blick ins Innere „seines“ normalen Kontrabasses werfen, mit dem Mini-Youtube-Video „Inside A Double Bass“. Was Gramss für seinen Tieftöner nach Möglichkeit nie verwendet, sind Verstärker. Bei Bedarf wird in Sachen Soundfülle höchstens über Mikrofonierung ein wenig nachgeholfen.

Stilistisch ist der Musiker vor allem in den Bereichen Jazz, Neue Musik und zeitgenössische Musik unterwegs. Im Grunde, so stellt er fest, landet er einfach ganz wie von selbst immer dort, wo Improvisation einen hohen Stellenwert hat. Was er in den unterschiedlichen Besetzungen spielt, sind jeweils ganz überwiegend eigene Kompositionen. Zwischen beidem sieht er einen fließenden Übergang. „Improvisation ist im Grunde nur eine schnelle Ad-Hoc-Komposition. Wenn jemand improvisiert, greift er genauso auf sein bisheriges Vokabular zu, er entscheidet sich nur schneller. Manchmal gibt es gute Ergebnisse, die man im stillen Kämmerlein gar nicht hinbekäme, weil man im Prozess des Spielens spontan noch auf ganz andere Ideen kommt.“ Was für ihn selbst wichtig ist, davon sollen dann nach Möglichkeit auch die beteiligten Ensemblemusiker etwas haben: „Grundsätzlich achte ich bei vielen meiner Projekte auf ein Gleichgewicht zwischen Auskomponiertem und Improvisation. Mit seltenen Ausnahmen lege ich meine Stücke so an, dass sie auch den Musikern einigen Spielraum lassen.“ Die musikalischen Ergebnisse landen immer wieder mal in der einen oder anderen Besetzung auf einem Album. Das sind inzwischen etwa 20 als Leader. So manche Komposition entstand fernab von Konzertbühne und Studio für den Kontext von Filmen, Hörspielen oder Theaterstücken. Selbst das Ensemble von Pina Bausch tanzte schon mal zu von Gramss komponierter Musik.

Die Anfänge des Bassisten liegen inzwischen einige Jahrzehnte zurück. Sie bestanden damals zunächst mal in klassischem Unterricht bei Ulrich Lau in Stuttgart. Anschließend ließ er sich am Konservatorium in Amsterdam und der Hochschule für Musik und Tanz in Köln am Kontrabass und in Komposition ausbilden. Er spielte zwar auch eine Zeitlang Cello, aber das, so Gramss, sei ihm heutzutage nun wirklich zu klein, und dann auch noch Quinten-Stimmung. Auf seinem musikalischen Weg heimste er ab und an mal einen Preis ein, in jüngeren Jahren bei Jugend musiziert, 2013 dann den ECHO als bester Bassist des Jahres national für das Underkarl-Album „Homo Ludens“. Inzwischen unterrichtet er an der Musikhochschule in Köln und der Hochschule Osnabrück seinerseits junge Musiker in Jazz-Kontrabass und Ensemble. Davon abgesehen sieht er zu, dass er auch selbst noch etwas zu lernen findet. Dafür eignen sich unter anderem internationale Kooperationen. Gramss ist ohnehin ganz gern mal rund um den Globus unterwegs. Einem größeren Austauschprojekt mit Mexiko im letzten Jahr folgt derzeit unter dem Titel „Roots & Shoots“ eines mit Indien, gefördert vom Goethe Institut. Die Anfang 2015 besuchten Musiker sind Ende des Jahres in Deutschland zu Gast. Gramss beschäftigt dabei zum einen, wie für diese multinationale Besetzung, unter anderem mit Sitar- und Tabla-Klängen, zu komponieren ist. Zum anderen gibt es wieder etwas Neues in sein Repertoire als Bassist zu integrieren. „Es gibt in Indien eine Form von Ornamentierungen in der Musik, sie heißt Gamaka. Eine solche Verzierung kann u.a. etwa sein, zwei Töne mit einem Glissando zu verbinden, oder einen Ton von oben oder unten mit einem Glissando anzusteuern, was bei uns in der traditionellen Schreibweise oft durch Vorhaltenoten oder Portamento passiert. Es gibt in der indischen Musik ein System von noch genaueren, teilweise nicht verschriftlichten Regeln, wie so etwas zu spielen ist. Das ist für den Kontrabass als bundloses Instrument eine großartige Inspiration.“