Direkt vorab: Ja, diese Produktion ist gelungen.
TON Kerstin Pohle solo unterlegen
Weil sie neben allem Aktivismus und politischem Statement eine große Poesie bereithält. Weil sie eine lose Geschichte erzählt. In der wiederum viele Geschichten enthalten sind.
Weil sie vielfältige Bedeutungen auffächert und genau das ihr aktivistisches Projekt ist.
Weil sie mythische Tiefe mit profanem Alltag verschränkt.
TON Kerstin Pohle solo kurz hoch (Gesang, Text unverständlich)
Alle Kinder der Welt träumen kollektiv einen Streik: Sie schlafen. Sie möchten die Fadenspiele der vorangegangenen Generationen nicht mehr aufnehmen. Sie verständigen sich miteinander, während ihres Schlafs. Wie über Wurzeln in einem Waldsystem tauschen sie geheime Botschaften, die an der Oberfläche nicht zu sehen sind. Kinder sind im „Gaia-Projekt“ der Ruhrfestspiele vor allem: Geschöpfe. In ihnen verkörpert sich das große Naturhafte der Schöpfung.
Auch in den sechs Frauen, die hier fast zwei Stunden über Youtube flimmern, manifestiert sich eine naturhafte Kraft. Dabei bewegen sie sich traumwandlerisch durch ihre Wohnungen und ihren auch sehr bodenständigen Alltag:
Sie sitzen in der Küche und schnibbeln Obst. Sie räumen Wäsche aus der Maschine. Sie winden sich eine gewendelte Treppe herunter, über deren Stufen kreuz und quer Fäden gespannt sind, die sie zwingen, sich zu verbiegen.
Nicht alle haben Kinder. Aber alle sind, als Künstlerinnen sowieso, „Schöpferinnen“ und schon daher auf eine Art „Mütter“. Ihre Kommunikation miteinander bildet, wie die der Kinder, eine Art Netz. Es gibt keine dramaturgischen Hierarchien. Niemanden im Vorder- oder Hintergrund, niemanden mit einer Haupt- oder Nebenrolle. Was es gibt, sind Rollen- und kulturelle Konflikte. Edith Tchuinang Voges hat ihr Kind in Deutschland bekommen, weit weg von den Traditionen ihrer kamerunischen Heimat. Dort wird nach der Geburt vor allem auch die Mutter umsorgt. In Deutschland tritt eine Mutter eher hinter ihrem Kind zurück. Die Sängerin aus Düsseldorf kämpft mit zwei Zuschreibungen: Ihr Kostüm, ein rot-blauer Helden-Catsuite mit Cape, erinnert an Superwoman und an eine Mutter Gottes. Mit beidem kann und möchte sie sich nicht identifizieren.
Rollenkonflikte und Projektionen spiegeln in Andeutungen also auch die Kostüme. Es gibt Masken, die die Augen der Frauen verschleiern wie bei einem Hochzeitsritual einer fernen Ethnie. Die gleichzeitig Köpfe aussehen lassen wie 50er-Jahre-Wanddekor. Andere Masken wirken wie transparente Schilde, auf die Gesichter mit rotem Faden gestickt sind.
Wir sind umstellt von Projektionen und Einschränkungen und werden immer wieder auch aufs hübsche Dekor reduziert. Aber all das wird nie platt gezeigt. Es bleibt bei schwebenden Andeutungen.
TON Musik Reptile ein und unterlegen
Die Frauen, Künstlerinnen, Mütter sind konfrontiert mit gesellschaftlichen Erwartungen. Mit Rollenzuschreibungen. Mit Schubladen. Wie reagieren sie nun darauf?
Sie versuchen ein Denken jenseits aller Schubladen. Ein Denken, wie es die Biologin Donna Haraway vertritt. Eines, das Gegensatzpaare wie die zwischen Mann/Frau, Hure/Heilige, Mensch/Tier.... einfach überspringt und jenseits der Schubladen nach Verwandtschaft sucht.
TON Reptile Gesang hoch (ca. 22s frei)
Standing in the crowd. Falling in. Staring into future. Standing out.
Die Trickfilmerin zeichnet die Komponistin Sara Bigdeli Shamloo in diesem Musikvideo immer mehr als ein Tier: Eine Reptilienhaut legt sich Stück für Stück über ihr Gesicht, bis nichts Menschliches mehr übrig bleibt.
Mehr als um Geschlechterkampf und Gegensätze geht es um eine neue Erzählung und neue Verwandtschaften, quer zu Herkünften. Schöpferisch wirken die Frauen hier auf der Youtube-Bühne, als Künstlerinnen. Als Mütter. Und fürsorglich.
Kultur und Natur sind in diesem Denken keine Gegensätze. Sie lassen sich im fließenden Prozess vereinen, während des Arbeitens, des Schaffens und Entwickelns. Des Sorgens.
Damit geht das Konzept auf. Gerade darin, dass das Gaia-Projekt eigentlich noch weitergehen soll.
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